Die Überbrückung der Rampe als, Übergang der Kunst in das Leben

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Übergang der Kunst in das Leben
Pirandello e Marta Abba

Monika Schmitz-Emans
Die Überbrückung der Rampe als‚ Übergang der Kunst in das Leben

durch Deutsches Pirandello-Zentrum e.V.

Pirandello-Symposium, Potsdam 2000

von Monika Schmitz-Emans

1. Auf der Suche nach einem Vorfahren: Dieter Wellershoffs Rekurs auf Pirandello in “Die Auflösung des Kunstbegriffs” (1976)

In seiner Poetikvorlesung von 1976 hat Dieter Wellershoff die Aufhebung der Differenz von Kunst und Leben als zentrales Anliegen der gegenwärtigen Kunst charakterisiert. Im Kapitel über “Die Überbrückung der Rampe” beruft er sich auf zeitgenössische Aktionskünstler, um diese ästhetische Grundtendenz seiner Zeit zu belegen:

“‘(…) es gibt keine Kluft zwischen der Kunst und dem Leben; diese These des amerikanischen Prozeßkünstlers Rafael Ferrer bezeichnet eine Haupttendenz der Kunst der sechziger Jahre in den USA und in Europa. Diese Kunst will nicht mehr Kunst im traditionellen Sinne sein, also keine Welt des Als-ob, des ästhetischen Scheins, der symbolvermittelnden Darstellung der Realität, die dem Leben als Abbild oder Sinnbild gegenübersteht, sondern sie versucht, direkt ins Leben überzugehen und mit ihm zu verschmelzen. Eine neue Nähe, eine neue Unmittelbarkeit will überall Praxis werden, offenbar getrieben von der rückgewandten Scham, so lange nicht Praxis gewesen zu sein, sondern Fiktion, Metapher, unverbindliche, sublimierte, in Bibliotheken, Museen und Theatern isolierte und abgeriegelte Kultur.”

Es bedarf des Rückblicks in eine bewegte Zeit, um die Bedeutung der hier diagnostizierten und affirmierten Entdifferenzierung von “Kunst” und “Leben” zu verstehen. Wellershoff gehört einer Schriftstellergeneration an, welche sich mit der Frage nach der gesellschaftlichen Funktion von Literatur und nach deren Rechtfertigung mit besonderer Insistenz konfrontiert sahen. Vor dem Hintergrund des 1968 im “Kursbuch 15” proklamierten “Todes der Literatur” erfolgten verschiedene Ansätze zu deren ‘Rettung’, welche vor allem dem Vorwurf der lebenspraktischen Irrelevanz des Literarischen zu begegnen und ihn zu entkräften suchten, und sei es um den Preis einer deutlichen Beschneidung literarischer Freiräume und Kompetenzen. So forderten die Programmatiker einer politisch wirksamen Literatur, diese möge sich der konkreten sozialen Realität zuwenden, um deren Ungerechtigkeiten zu entlarven und gleichzeitig an den Willen zur Reform, wenn nicht gar zu Revolution bestehender Verhältnisse zu appellieren. Als exemplarisch für eine praktisch relevante Literatur wurden etwa die Reportagen Günter Wallrafs begriffen. Dieser entsagte entschieden der Fiktionalität und plädierte für den Dokumentarismus; gesellschaftliche Strukturen sollten möglichst unverfremdet im literarischen Protokoll zum Ausdruck kommen.

“Wir wollen nicht Literatur als Kunst, sondern Wirklichkeit. (…) Die genau beobachtete und registrierte Wirklichkeit ist immer phantastischer als die kühnste Phantasie eines Schriftstellers.”

Die Kritik an der sogenannten “traditionellen” Literatur um der sogenannten “Realität” willen wurde zum vielfach variablen und praktikablen Topos. Peter Weiss forderte ähnlich wie Wallraf eine “revolutionäre Kunst” als das Pendant einer “Revolution der Gesellschaftsordnung”. In einer Art berufsinternen Publikumsbeschimpfung tadelte Peter Paul Zahl die bürgerlichen Literaten als “massenfeindliche, vollgefressene, verhätschelte Möpse eines ‘stinkenden Leichnams’ (Rosa Luxemburg), der sogar im Grab die Muse nicht missen will”. Siegfried Lenz faßt die Situation in seinem Essay “Wettlauf der Ungleichen. Literatur im wissenschaftlichen Zeitalter” so zusammen:

“Die Literatur ist sich heute mehr denn je zum Problem geworden. Durchtränkt von der Überzeugung, daß sie überholt, unzeitgemäß, wirkungslos sei, und von einer Skepsis unterwandert, die in der Erscheinung des Schriftstellers nur ein gesellschaftspolitisches Fossil sieht, überreden uns heute gerade Schriftsteller, die Literatur abzuschaffen. Sie wird radikal beschnitten auf gesellschaftspolitische Funktionen, sie wird als ein feudaler Rest, als sentimentale bürgerliche Selbstbestätigung denunziert und als nutzloser Konsum zurückgewiesen. Ja, man spricht heute der Literatur die Möglichkeit ab, einen Beitrag zur Erkennbarkeit des Menschen in der Zeit zu liefern, und die Frage, ob sie zu seiner sogenannten Selbstverwirklichung beitragen könne, diese Frage wird verneint.”

Dieter Wellershoff, der damit nicht allein stand, bemühte sich um eine Rechtfertigung des Literarisch-Ästhetischen (denn um nicht weniger als um deren Existenzberechtigung ging es bei vielen Kritikern), indem er – unter Anknüpfung an Positionen der ‘klassischen’ modernen Literatur- und Kunsttheorie – die Literatur und die Künste als Medien der Aufklärung, der Sensibilisierung, der Entautomatisierung verstand. Durch seinen Appell an die Wahrnehmungsfähigkeit des Publikums und den Bruch mit Konventionen der Erfahrung sollte das literarische Werk mittelbar emanzipatorisch wirken.

“Die Durchbrechung des Kontinuums unserer praktischen Realitätsbeherrschung ist also die Entstehungsbedingung des Poetischen. Das läßt sich am besten wohl am Film nachweisen, der mit seinen wechselnden Kameraeinstellungen, vor allem durch Detailaufnahmen, Schnitte und Fahrten die bekannte Welt in ungewohnte Ansichten auflöst und ihr so eine neue gesteigerte Sichtbarkeit gibt.”

“Die poetische Erfahrung ist demnach ein Zustand gesteigerter Phantasietätigkeit, hervorgerufen durch einen Mangel an Eindeutigkeit in unserem jeweiligen Wahrnehmungs- und Vorstellungsraum.”

Damit aufs engste verbunden war die Forderung nach einer Literatur und Kunst, die alle, nicht nur eine bildungsbürgerliche Elite, ansprechen sollte – nach einer nicht-exklusiven Kunst, die ein großes Publikum in den ästhetischen Prozeß miteinbezog. Für Wellershoff ist das Überspielen der Rampe, das er in programmatischer Akzentuierung ein “Überbrücken” dieser Rampe nennt, zum einen ein konkretes künstlerisches Mittel, von dem er sich jene Einbeziehung des Publikums in den künstlerischen Prozeß erhofft, zum anderen aber auch ein Gleichnis, in dem die Hoffnung auf eine Aufhebung der Distanz zwischen der Kunst und dem Alltagsleben der Menschen zum Ausdruck kommt. Der zweite Teil der Vorlesungen Wellershoffs über “Die Auflösung des Kunstbegriffs” trägt in analogem Sinn, unter Verweis auf neue mediale Kunstformen sowie auf neue Gegenstände der Darstellung den programmatisch-provokanten Titel: “Alles ist Kunst, jeder ist Künstler”:

“Die exklusive Gegenposition der Kunst gegenüber dem Leben befindet sich in Auflösung. Das habe ich, ausgehend von der Überbrückung der Rampe zwischen Bühne und Zuschauerraum, zu beschreiben versucht als Auflösung aller markanten Distanzen und Unterschiede zwischen der Welt des ästhetischen Scheins und der Realität. Immer täuschender, näher rückt durch verbesserte Simulationstechniken die Kunst an die Wirklichkeit heran, immer direkter werden ihre Zuschauer und Betrachter von ihr attackiert oder in sie einbezogen, immer realer werden die künstlerischen Reize und Materialien, immer lebensnäher die Fiktionen, immer mehr Fiktives mischt sich in die Praxis, immer platter bindet die Reproduktionstechnik das Abbild an seinen Gegenstand – das ganze nähert sich dem Grenzwert der Tautologie oder einer Verschmelzung beider Sphären. / Doch der Prozeß ist damit noch nicht hinreichend erfaßt. Es kommen zwei wichtige Tendenzen hinzu (…): die grenzenlose Erweiterung des Darstellungswürdigen und die Ablösung der künstlerischen Gestaltung durch die Reproduktionstechnik oder das einfache Annektieren vorgefundener Realität.”

“Lebensnähe”, Simulation”, aber (irritierenderweise) auch “Täuschung” sind die zentralen Stichworte dieses Programms. Fast paradox nimmt sich der Rekurs auf den Begriff der “Täuschung” insofern aus, als damit indirekt der Zuschauer zum Objekt einer Manipulation erklärt wird – eine Problemlast, die diesen ästhetischen Ansatz dauerhaft belastet. Die Nivellierung oder gar Abschaffung der Grenze zwischen ästhetischem Geschehen (in der Literatur, im Film, im Theater), die sich von der einen Seite als Öffnung der Kunst-Sphäre für das große Publikum darstellt, nimmt sich von der anderen als eine Vereinnahmung des (womöglich irritierten und überrumpelten) Publikums aus, dem vielleicht eine größere Distanz zur Bühne, zur Leinwand oder zum Buch lieber wäre als der Sog ins ästhetische Geschehen hinein.

Wellershoff charakterisiert in seiner Vorlesung von 1976 Luigi Pirandello als einen Wegbereiter der Entgrenzung zwischen Kunst und Leben. Dessen Metatheater habe durch die Überspielung der Rampe die Differenz zwischen Kunst und Leben aufgehoben. Zugleich habe er das traditionelle Theater überwunden, das zu einer ‘authentischen’ Darstellung des Lebens unfähig gewesen sei.

“Hier [in den “Sei personaggi”] war also der schwierige Übergang der Kunst in das Leben gelungen. Ein Theaterstück hatte öffentliche Erregung und Handgreiflichkeiten hervorgerufen, und zwar nicht, wie heute üblich, durch direkte Attacken auf das Publikum, sondern mit Hilfe einer doppelten Fiktion, die noch einmal einen wirklichkeitsmächtigen Theatervorgang erzeugte, gerade indem sie die Unfähigkeit des Theaters, authentisch vom wirklichen Leben zu sprechen, thematisierte.”

Wellershoff deutet Pirandellos Oeuvre biographisch-psychologisch, gestützt auf Renate Matthaeis Pirandello-Monographie. Die “Sei personaggi” seien das Produkt der Auseinandersetzung des Sizilianers mit seiner eigenen Familie und deren Krisen. Es folgen, weiterhin in Anlehnung an Renate Matthaei, Angaben zur Familiengeschichte der Pirandellos, und Wellershoff befindet wie Matthaei, Pirandellos Leben müsse man “in unmittelbarem (!) Zusammenhang” mit seinem Stück sehen. Suggeriert wird, Pirandello habe sich seine Lebensprobleme als Dichter gleichsam distanzierend vom Leibe geschrieben. (Die hier implizit vorausgesetzte Bewältigungs-Poetik verhält sich demnach offensichtlich affin zum Programm einer Verknüpfung von Leben und Kunst. Eine Literatur mit kathartischer Wirkung ist sozial gerechtfertigt, zumal wenn die kathartisierten Probleme nicht nur die eines Einzelnen, sondern die einer ganzen bürgerlichen Gesellschaft sind.)

“Pirandello suchte nach einem Modell, in dem er seine privaten Erfahrungen ausdrücken und distanzieren konnte; aber es schien keine Möglichkeit zu geben, die authentische Lebenserfahrung in die gewohnte Bühnenform zu übersetzen, ohne sie zugleich zu verraten. Leben schien nicht Kunst werden zu können, es war nicht darstellbar und nicht objektivierbar, bis Pirandello den Einfall hatte, gerade diesen Widerspruch und den vergeblichen Versuch seiner Auflösung darzustellen.”

Eine Bemerkungen zum Pirandello-Buch von Renate Matthaei erscheint hier angebracht: Man wird nicht zögern, diese Kombination aus Lebensbild, Werkbiographie und exemplarischen Einzelinterpretationen “verdienstvoll” zu nennen, wenn es um die Nützlichkeit für Einführungs- und Annäherungszwecke geht. Der biographisch-populärpsychologische Ansatz mit dem Matthaei an das Oeuvre Pirandellos herangeht, wirkt allerdings aus der Distanz von über 30 Jahren eigentümlich harmlos. Dies gipfelt in der Suggestion, Pirandellos Werk sei aus der Herkunft und den Lebensbedingungen eines Autors zu verstehen, dessen Heimat Sizilien vorwiegend von melancholischen Psychopathen von latenter Gewalttätigkeit bevölkert sei. Ein imagologisches Klischee wie das “heftige Temperament der Sizilianer” nimmt sich als Begründungskonzept ebenso eigentümlich aus wie “Dieses Sizilien mit seiner Doppelbödigkeit”.

Immerhin knüpft Matthaei so jene Verbindung zwischen Pirandellos “Kunst” und seinem “Leben”, auf die es Wellershoff ankommt; sie stellt ausführliche Beziehungen zwischen den Handlungen von Pirandellos Dramen und Erzählungen einerseits, seinem bewegten Familienleben andererseits her. Selbst der nachträglichen “Bericht” Pirandellos über die Entstehung der “Sei personaggi” gerät in Matthaeis Lesart in die Nähe eines authentisch-dokumentarisches Zeugnisses über den Geisteszustand des Autors, ohne daß das mit ihm verbundene ästhetische Arrangement, insbesondere die Konstruktion einer Autor-Rolle, als solches reflektiert würde. Hierdurch wird auch Wellershoffs Auseinandersetzung mit Pirandello vorgeprägt.

“Über die Entstehung der SECHS PERSONEN ist viel gerätselt worden, nicht am wenigsten von Pirandello selbst. Neun Jahre nach der Premiere des Stücks versuchte er in einem ausführlichen Vorwort seine Bedeutung zu erklären. Aber das Ergebnis, beeinflußt durch die voraufgegangene Kritik, verrät mehr über die Entdeckungen, die (er) selbst später, bei ruhiger Überlegung, (hat) machen können, als über den Anlaß der Konzeption. Die Enstehung des Dramas erscheint Pirandello in einem mystischen Dunkel, als ein Wunder, eine spontane Erleuchtung der Phantasie. Undiskutiert bleibt die merkwürdige Besessenheit von einem dramatischen Stoff, den er selbst sinnlos fand, aber nicht aus seinem Geist verjagen konnte. Man versteht, daß es ihm nicht gelang, einen Sinn in den sechs Personen zu entdecken, aber nicht, was ihn an ihnen so faszinierte. Was soll die fabel von einem Familienunglück, das kritisch betrachtet, ebenso privat wie konstruiert wirkt? Trotzdem zweifelt man, sobald die personen die Bühne betreten haben, nicht einen Moment, daß sie ein wirkliches Drama mitzuteilen haben. Ihre betroffenheit wirkt echt, und das ist nur möglich, weil Pirandello selbst sich mit ihnen identifitiert (…). Durch alle Verstellung und ironische Brechung des Spiels hindurch erkennt man die Fixierung auf eine persönliche Erfahrung und den vergeblichen Versuch, sie zu objektivieren.”

Man mag sich fragen, wie ein Pirandello-Interpret angesichts des doppelbödigen, ja hinterhältigen Spiels, das Pirandello mit rahmenden “Informationen” über seine Stücke anzuzetteln pflegt, überhaupt auf die Idee kommen kann, jenen Vorbericht im Sinne eines Bekenntnisses zu lesen. Der Authentizitätsdiskurs, dem Matthaeis Lektüre verpflichtet ist, fügt sich aber konzeptionell recht gut zu einem “Realitätsbegriff”, demzufolge die Kunst letztlich nichts anderes tut, als das “Leben” möglichst ‘echt’ zum Ausdruck zu bringen. Das Lob an Pirandellos Adresse, seine Figuren – oder vielmehr deren “Betroffenheit” – wirke “echt”, nimmt sich angesichts der ostentativen Selbstverweise des dramatischen Spiels in Pirandellos Metatheater allerdings mißverständlich aus.

Wellershoff, der selbst unter anderem auch Dramatiker ist, widmet der Frage nach der praktischen Möglichkeit, die Rampe so zu überspielen, daß das Publikum tatsächlich ins ästhetische Geschehen einbezogen wird, eingehende Überlegungen. Er konstatiert bei dem zu dieser Zeit vielleicht prominentesten Vertreter deutschsprachiger Avantgarde, Peter Handke, und Pirandello ein analoges ästhetisches Anliegen und charakterisiert dieses durch das Stichwort “Irritation”.

“Eine Irritation [des Zuschauers] kann eigentlich nur so lange eintreten, wie die ursprüngliche Erwartung, daß man ein Spiel, eine Darstellung zu sehen bekommt, noch ungestört ist (…) Die Zweiteilung zwischen Bühne und Zuschauerraum, die von der sozialen, ökonomischen Voraussetzung der Institution Theater geprägt ist, läßt sich eben kaum überbrücken und stellt sich immer wieder her. Wirksamer wird die Spaltung, wenn, wie in Pirandellos Stücken Jeder auf seine Weise (1924) und Heute abend wird aus dem Stegreif gespielt (1929), das Stück schon dort stattfindet, wo man kein Theater erwartet, auf der Straße vor dem Theater, im Foyer und im Zuschauerraum. Doch auch das übersteht nicht die Wiederholung und entlarvt sich bald als Trick.”

Als in ihren Effekten “direkter und realer” betrachtet Wellershoff die im russischen Revolutionstheater vorgenommenen “Versuche der Distanzüberbrückung”, etwa Meyerholds Bemühen, “die Kluft zwischen Kunst und wirklichem Leben” durch den Verzicht auf Vorhang und Rampe zum Verschwinden zu bringen. Allerdings gelten ihm solche Ansätze, “die Bühne beweglich und variabel” zu machen, als indirekte Beweise für eine “Schwerfällikeit und Widerständigkeit des Theaterapparates”, das diesen dem neuen Medium des Films unwiderruflich unterlegen erscheinen lasse. Der Film vermöge durch die bewegte Kamera, den Betrachter “viel intensiver und unmittelbarer ins Geschehen [zu] verwickeln”, obwohl das Theater als jeweils “einmaliges Ereignis mit wirklichen Menschen” einen gewissen “Authentizitätsvorsprung” besitze. Manche Implikation dieser vergleichenden Charakteristik von Theater und Film wäre kommentierungsbedürftig, so etwa anläßlich der Wendung von den “wirklichen Menschen”, die vordergründig einleuchtet, aber sofort problematisch klingt, wenn man den Begriff des “Wirklichen” selbst in einer so radikalen Weise problematisiert, wie es beispielsweise Pirandello getan hat. Zu fragen wäre auch, wie es um die vorgeblich suggerierte “Unmittelbarkeit” des Bezugs zwischen Zuschauer und Geschehen steht, welche laut Wellershoff die Lenkung des Blicks durch die Kamera bewirkt, um die angeblich “unmittelbare” Einbeziehung des Betrachters in die Ereignisse (Wellershoff verwendet das Adjektiv kurz hintereinander zweimal), oder um die “totale sinnliche Teilnahme” des Filmzuschauers. Wellershoff geht es freilich nicht darum, dem Film eine größere Authentizität als dem Drama zuzugestehen, er meint nur, die “Fiktionalität des Theaters” sei “für den Zuschauer jederzeit leichter erkennbar als die Fiktionalität des Films”, denn im Kino werde man von einer “Pseudorealität” gefangen genommen, welche mit dem “Realitätsbewußtsein” des Zuschauers “unklar verschmilzt”. Eben diese ‘Gefangenschaft’ betrachtet er signifikanterweise als erstrebenswertes Ziel ästhetischer Darstellung, nicht etwa als anti-emanzipatorischen und störenden Nebeneffekt. Von möglichen Einwänden bezüglich der Generalisierbarkeit solcher Aussagen über den Film einmal abgesehen: Entscheidend ist, daß Wellershoff die darstellenden Kunstformen unter dem Aspekt intendierter “Realitätssimulationen” kommentiert; solche Simulationen sind für ihn dadurch charakterisiert, daß sie dem Zuschauer den Eindruck vermitteln, “einbezogen zu sein”. Keinen Zweifel scheint er zu hegen, daß auch Pirandello die Intention zugeschrieben werden kann, dem Zuschauer dieses Einbezogensein zu suggerieren.

Trotz der Aufbruchsstimmung in Literatur- und Kunstszene der 70er Jahre ist es nicht ungewöhnlich, daß ein Theoretiker in Autoren der ersten Jahrhunderthälfte den Vorläufer und Wegbereiter sucht: Auch und gerade die Protest- und Popgeneration suchte den Anschluß an die klassische Moderne. Affinitäten zu Pirandello ergaben sich für die Avantgarde der 60er und 70er Jahre zweifellos, so etwa durch das gemeinsame Aufbegehren gegen ästhetische Formkonventionen, die Bereitschaft zum formellen Experiment, die Brüskierung von (zuvor kalkulierten) Publikumserwartungen, die Rebellion gegen moralische Konventionen, die inhaltliche Konzentration auf ‘Alltägliches’, die kritische Auseinandersetzung mit bürgerlicher Mittelmäßigkeit und spießig-moralischer Enge, mit verfestigten Lebens- und Denkformen, mit der Einengung des Einzelnen. Peter Bürger hatte ganz analog zu Wellershoffs Rückblick in die 20er Jahre unter Anspielung auf die politischen Ereignisse von 1968 von der Aktualität des Surrealismus gesprochen; gemeinsam sei der Maibewegung und den Surrealisten die “Revolte gegen eine als Zwang empfundene Gesellschaftsordnung”, der “Wille zur totalen Umgestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen” und das “Streben nach einer Vereinigung von Kunst und Leben”. Im Zeichen der Aufhebung der Grenze zwischen Kunst und Lebenspraxis – so Bürger – habe sich surrealistische Kunst als im weiteren Sinne politische Aktion verstanden.

Um die “Aufhebung” der Grenze zwischen Leben und Kunst geht es in Wellershoffs “Auflösung des Kunstbegriffs” durchgängig. Anlaß der Salzburger Vorlesungen war, Wellershoffs Vorbemerkung zufolge, das Interesse an der “Wendung zum Dokumentarismus”, welche die Gegenwartsliteratur charakterisiere und dabei in einem größeren Umfeld ästhetischer Entwicklung zu sehen sei. Als Belege für analoge Entwicklungen in den “Nachbarkünsten” nennt Wellershoff Duchamps’ Erfidung des Ready-mades, Warhols Vorstöße zur “Reproduktion von Faktizität” mittels “Tonband und Kamera”, sowie insbesondere theatralische Aktionen. Allenthalben beobachtet Wellershoff “Entgrenzungen des ästhetischen Bereichs, oszillierende Übergänge von Kunst und Wirklichkeit, in denen die Entwicklungslogik der neuzeitlichen Kunst ihre äußersten Konsequenzen erreicht”. Zu Recht diagnostiziert er selbst einen Zusammenhang zwischen der “Entgrenzung der Kunst” und ihrer aktuellen “Legitimationskrise”, welche aus der Dringlichkeit der Frage nach der Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft erwachse. Charakteristischerweise rückt Wellershoff den Tag der Uraufführung der “Sechs Personen” in Rom (10. Mai 1921) in den Blick, also nicht das Stück als gedrucktes, sondern als dem Publikum szenisch gegenwärtiges Werk. Sein Interesse gilt dem Theaterskandal, an den er mit einem Zitat Renate Matthaeis erinnert, das diese Uraufführung implizit in die Nähe eines Happenings rückt:

“‘Zuschauer, Schauspieler und Kritiker gerieten sich auf der Bühne in die Haare, das Publikum rottete sich nach der Vorstellung zusammen, bedrohte den Autor und diskutierte das Stück anschließend noch stundenlang auf den öffentlichen Plätzen der Stadt.'”

Der Skandal ist in Wellershoffs Lesart ein Gelingen; er betrachtet den Theaterstreit als eine vom Autor gewünschte Fortsetzung des Metatheaters mit anderen Mitteln.

“Hier war also der schwierige Übergang der Kunst in das Leben gelungen. Ein Theaterstück hatte öffentliche Erregung und Handgreiflichkeiten hervorgerufen, und zwar nicht, wie heute üblich, durch direkte Attacken auf das Publikum, sondern mit Hilfe einer doppelten Fiktion, die noch einmal einen wirklichkeitsmächtigen Theatervorgang erzeugte, gerade indem sie die Unfähigkeit des Theaters, authentisch vom wirklichen Leben zu sprechen, thematisierte.”

Die letztere Formulierung suggeriert verzerrenderweise, daß Pirandello dergleichen (“authentisch vom wirklichen Leben zu sprechen”) als erstrebenswert empfand. Für die implizierte doppelte These, daß “Authentizität” eine Kategorie wäre, die erstens auf seiten des Lebens stünde und an welcher zweitens die Kunst sich bemessen lassen müßte, lassen Pirandellos Befunde von der unausweichlichen Theatralik des Lebens selbst sich allerdings kaum ohne Gewaltsamkeit funktionalisieren. Wellershoff vereinnahmt Pirandello auf eine willkürliche und fragwürdige Weise als Vorfahre. Unentscheidbar ist, wieviel daran Strategie, und wie viel Mißverständnis ist. Für letzteres spricht unter anderem, daß auch Wellershoff Pirandellos fiktive Entstehungsgeschichte des Stücks so paraphrasiert, als nehme er sie wörtlich. Der Ich-Erzähler der Rahmengeschichte und der empirischen Autor Pirandello werden miteinander identifiziert. Dies paßt zwar zum Programm einer Entdifferenzierung von Kunst und Fiktion; ignoriert wird dabei aber das stilisierend-reflexive Moment, welches in solcher Rahmung einer Fiktion durch eine andere liegt. Im Zeichen der Konzeption einer Leben-Kunst-Assimiliation steht der “Autor” für den Autor. Das wirkt einerseits fast unglaublich naiv – andererseits wieder konsequent.

“Pirandello hatte ein Familiendrama schreiben wollen. Aber er hatte es nicht mehr gekonnt, es war ihm unglaubhaft erschienen, und zwar um so mehr, je weniger es ihm gelang, die sechs Personen ‘aus seinem Geist zu verjagen’.”

Die Paraphrase zu den “Sechs Personen” schildert das Stück als simulatorisches Arrangement. Das eigentliche Stück scheine, so Wellershoff weiter, “gar nicht stattzufinden”.

“Dabei ist man schon mittendrin. / Die Verwirrung geht davon aus, daß der Bühnenraum nicht wie gewöhnlich als fiktionaler Raum, als Welt des Als-ob erscheint, sondern als wirklicher Raum, nicht essentiell unterschieden von anderen Arbeitsräumen oder vom Zuschauerraum, denn die Schauspieler scheinen auf der Bühne nicht wie gewohnt in Rollen aufzutreten, sondern als reale Menschen, als sie selbst. Doch gerade das ist die Täuschung, denn die vermeintliche Bühnenprobe ist schon das Spiel.”

Gerade diesen Irritationseffekt betrachtet Wellershoff als Bindeglied zwischen der Dramaturgie Pirandellos und Handkes, aus dessen “Publikumsbeschimpfung” er zitiert:

“Sie sehen keinen Raum, der einen anderen Raum vortäuscht. Sie erleben hier keine Zeit, die eine andere zeit bedeutet. (…) Wir befinden uns an den gleichen Orten. Wir atmen die gleiche Luft. Wir sind im gleichen Raum. Hier ist keine andere Welt als bei Ihnen. Die Rampe ist keine Grenze.”

Wellershoff zufolge lag in der Entdifferenzierung zwischen künstlerischer Aktion und Lebenspraxis die maßgebliche Neuerung des Pirandellianischen Theaters – und der Anstoß für seinen Erfolg.

“Die irritierende Auflösung der Grenze zwischen Bühne und Realität und damit die Verunklärung der bisher klar aufeinander bezogenen Rollen von Schauspieler und Zuschauer haben sicherlich mit dazu beigetragen, daß das Publikum 1921 auf Pirandellos Stück so heftig reagierte. Man war durch eine lange und ehrwürdige Tradition daran gewöhnt, als Zuschauer unbehelligt zusehen zu können, wie dort auf der Bühne im fiktionalen Raum die Probleme des Lebens dargestellt, entwickelt und gelöst wurden. Und nun wurde behauptet und vorgeführt, daß die Als-ob-Welt keine Kompetenz zur Darstellung und Deutung des wirklichen Lebens habe. Der Schrecken der realen Erfahrung blieb der Schrecken und war nicht mehr durch seine künstlerische Darstellung zu bannen oder eben nur noch in der zerrissenen Form dieses Stückes, das sein eigenes Scheitern zeigt. Zweifellos bedeutete das eine Enttäuschung fundamentaler Erwartungen der Zuschauer, das Ende einer Sicherheit, die auf kulturellen Garantien beruhte, die nun gekündigt wurden. Es gab keine Distanz mehr, keine klare Unterscheidung von Realität und Fiktion und keine Transformation des Lebensrohstoffes in eine zusammenhängende, geklärte, sich als geschlossene Totalität behauptende Kunstgestalt (…). Eine Institution, die der Bannung des Lebens gedient hatte, drohte nun, indem sie ihre Auflösung simulierte, mit dem Gegenteil: einem verstärkten Wirklichkeitsdruck.”

Diese Darstellung des ästhetischen Intentionen Pirandellos extrapoliert vom ersten Irritationseffekt auf das ganze Stück, dem die Funktion zugeschrieben wird, die “Distanz” zwischen theatralischer Aktion und der “Lebens”-Wirklichkeit der Zuschauer aufzuheben. Was jedoch dagegen spricht, Pirandello die Intention zu unterstellen, dem Zuschauer das Gefühl des “Einbezogenseins” zu suggerieren, ist in erster Linie der stark reflexive, metadramatische Grundzug seines Theaters. Reflexion schafft Distanz. Dramatische Figuren, die über ihren eigenen Status als dramatische Figuren sprechen, wie es die Sechs Personen tun, arbeiten dem Illudierungseffekt gerade entgegen. Indem sie sich als Kunst-Figuren ‘outen’, verweigern sie dem Zuschauer sogar den – vielleicht aufgrund der Gewöhnung ans traditionellere Theater ersehnten – Illusionseffekt; sie schließen ihn förmlich aus, statt ihn einzubeziehen. Pirandello nutzt das Strukturprinzip des Spiels im Spiel, um auf das Spiel aufmerksam zu machen- und das ist genau der gegenteilige Effekt jener Entdifferenzierung, die Wellershoff als Simulation beschreibt.

Daß Pirandello es gerade nicht auf eine Verwischung der Grenze zwischen theatralischem Spiel und Außenwelt anlegt, ist eine Konsequenz der Tatsache, daß für ihn die Dichotomie von Kunst und Leben den Rang einer Leitdifferenz besitzt, auch wenn “Kunst” nicht nur in der Kunst, “Leben” nicht nur im Leben vorkommt. “Kunst” im Sinne von “Künstlichkeit” ist auch für das Alltagsleben konstitutiv (in diesem Sinne ist es rollenhaft), und umgekehrt gewinnt die Kunst des Dramatikers im Zuge einer Inszenierung jeweils aktuell neues “Leben”, aber darum ist das “Leben” einer Rollenfigur doch keineswegs mit dem eines lebendigen Menschen gleichzusetzen.

2. Das Konzept ästhetischer “Simulation”

Wellershoff stellt Pirandellos Metatheater in eine Reihe mit theatralischen und filmischen Formen der “Simulation” von Wirklichkeit, welche durch ihre Intenion geprägt sind, den Zuschauer ins ästhetische Geschehen zu integrieren, dem Zuschauer den Eindruck vermitteln, “einbezogen zu sein”. Dies bereite sich vor mit den Stücken “Ciascuno a suo modo” und “Questa sera si recita a soggetto”, da hier die Spielhandlung schon im Zuschauerraum beginne. Dadurch werde das Publikum an der Grenze zwischen Bühne und Außenwelt, Kunst und Leben irre – zumindest beim ersten Mal. Die zuvor diagnostizierte ‘Verbesserung’ der Realitätssimulation in der zeitgenössischen Kunst-Szene wird von Wellershoff als eine wechselseitige Durchdringung zweier “Wirklichkeiten” umschrieben:

“So wird die zweite Wirklichkeit, die Zeichenwelt der Kunst, der ersten Wirklichkeit, die sie früher nur bedeutete und durch Bild, Musik, Wort und Gebärden symbolisierte, immer ähnlicher und dringt in sie ein. Das Tafelbild wölbt sich von der Wand und schließt als Environment seinen Betrachter ein. Das Theater tritt als Happening überall auf. Die Environments erweitern sich multi-medial und machen den Betrachter oder den Benutzer durch feed-back-Mechanismen zu ihrem aktiven Bestandteil. das Kunstwerk wird begehbar, veränderbar und wird rückgekoppelt mit den Reaktionen seiner Betrachter-Akteure, wie z.B. die Tanzmaschine Mimosonic, die den Teilnehmern erlaubt, elektronische Musik zu gestalten, indem sie sich vor einer Wand von Fotozellen bewegen. Bei Robert Rauschenbergs Eventstruktur Soundings (1969) löst der Betrachter durch Töne Lichtkontakte aus, die immer andere Teile der Komposition aufleuchten machen.”

Wellershoffs Aufzählung von Arrangements, die den Rezipienten in die ästhetische Aktion miteinbeziehen, gibt Anlaß zu der Frage, ob Pirandellos Theater wirktlich ein Vorläufer der “Tanzmaschine” ist – keine Frage für Wellershoff freilich, denn warum sonst (so meint Wellershoff, der ja einen Zusammenhang zwischen Pirandellos Rampenüberschreitungen und der Environment-Kunst der 70er Jahre statuiert), warum sonst die Szenen im Foyer und auf der Straße, die physische Durchmischung von Akteuren und Zuschauern, wenn nicht, um dem Zuschauer die Integration seiner selbst ins Gesamt-Spiel zu suggerieren und damit das Leben in die Kunst hineinzuholen?

Insofern jedoch Pirandellos Metatheater gerade auf seine Theatralität aufmerksam macht, findet das genaue Gegenteil einer Durchdringung zweier “Wirklichkeiten” bis zur letztlichen Ununterscheidbarkeit statt. Mit den Foyer-Szenen geht es zwar zunächst um die Irritation des Zuschauers, aber nicht, um diesem das dauerhafte Gefühl des Miteinbezogenseins zu vermitteln, ja es geht überhaupt nicht primär um “Gefühle” und “Eindrücke”, auch wenn diese katalysatorisch wirken mögen. Vielmehr legt es die unkonventionelle Eröffnung der Spielhandlung darauf an, die Sensibilität für Spiel-Strukturen zu schärfen. Der Zuschauer soll und wird schrittweise erkennen, daß der Zuschauerraum zum theatralischen Raum gemacht wurde, ja daß er selbst vorübergehend zum Statisten umfunktioniert worden ist. Diese Einsicht (die – wie Wellershoff selbst einsehen muß – ganz unausweichlich ist, wenn man ein Pirandellostück einmal kennt) soll die Sensibilität dafür schärfen, wie Pirandellos Theater “gemacht” ist (eine Sensibilität, welche den kritisch-distanzierten Blick eines reflektierenden Rezipienten voraussetzt und – etwa – nichts mit den Bewegungen eines Tänzers im “Mimosonic” zu tun hat). Die der gedruckten Ausgabe der “Sechs Personen” vorangestellt fiktionale Erzählung hat analoge Funktionen. Auch sie ist in erster Linie einmal ein Selbstverweis des literarisch-ästhetischen Arbeitsprozesses, durch welchen mittelbar der Kunst-Charakter des eingerahmten Dramas akzentuiert wird. Die Prätention, dem Autor seien die Figuren eine lästige Bedrängnis gewesen, steht im Zeichen einer Ironie, wie sie aus dem romantischen Metatheater und der romantischen Erzählkunst bekannt ist.

Pirandello gibt einen wichtigen Hinweis, wenn er sich in der Vorerzählung zu den “Sei personaggi” porträtiert: Er ist ein ‘philosophischer’ Autor. Nicht auf die Befindlichkeit des Zuschauers als Teil eines ästhetischen Environments, sondern auf die reflexive Auseinandersetzung mit einem kunstvollen Arrangement von Spiegelungsverhältnissen und dramatischen Gleichnissen zielt sein Arrangement ab. Auch wenn die Bühne in den “Sei Personaggi” wie eine Bühne bei einer Probe aussieht, auch wenn es eine Rolle namens “Direktor” gibt, soll der Zuschauer den Schauspieler, der den Theaterdirektor spielt, keineswegs für den “Direktor” des “richtigen” Theaters halten. Der initiale Irritationseffekt provoziert vielmehr zur Selbstkorrektur. Als Ergebnis des ausgelösten Reflexionsprozesses mag sich dann die Einsicht ergeben, daß (um es trivial zuzuspitzen) “Direktoren” im sogenannten richtigen Leben ebenfalls “Schauspieler” sind, aber das ist eine Gleichsetzung, die auf begrifflich-konzeptuellem Fundament ruht und nichts mit spontaner sinnlicher Evidenz zu tun hat oder haben will – geschweige denn mit dem Eintauchen in eine Simulationswelt.

Dafür, daß Kunst als Kunst in ihrer Reflexivität zur Geltung kommt, sorgen in den “Sei personaggi” mit großer Eloquenz gerade die sechs Charaktere selbst. Aller Verzweiflung angesichts der ziel- und ergebnislosen Suche nach einem Autor zum Trotz besitzen die Sechs – oder doch die ihrer ästhetischen Seinsweise bewußten Vertreter der Gruppe – beispielsweise genug Selbstbewußtsein, um die Mitglieder des Ensembles darüber zu belehren, daß man als Kunst-Geschöpf “jemand” sei, als “wirklicher” Mensch hingegen strengenommen “niemand”. Darum, so der Vater zum Direktor, dürfe ein Kunstgeschöpf einen Menschen auch in Frage stellen, während es seinerseits von den letztlich so nichtigen Menschen nicht in Frage gestellt werden könne.

Monika Schmitz-Emans

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