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Michael Rössner
Pirandello und die deutsche “Kultur”
Eine kulturwissenschaftliche Annäherung mit vielen Fragen
durch Deutsches Pirandello-Zentrum e.V.
Pirandello-Symposium, Potsdam 2000
von Michael Rössner
Die Kulturwissenschaften gelten immer noch als modern; wenn man im Rahmen dieser Tagung Pirandello durch ihre Brille zu betrachten sucht, setzt man sich nicht zu Unrecht dem Verdacht des modischen Heischens nach Anerkennung aus, vor allem in Zeiten wie diesen, da man mit einer bloßen Erörterung von Text und Autor keinen müden Leser mehr hinter dem Bildschirm hervorzulocken vermag. Der Verdacht ist gewiss berechtigt; als alter Pirandellianer bin ich mir der Tatsache bewusst, dass an einem Entscheidungsprozeß nicht nur ein, sondern mehrere Ichs beteiligt sind, und zweifelsohne hat eines meiner kleinen Ichs auch bei der Formulierung des Untertitels aus den genannten Motivationen heraus seine Finger im Spiel gehabt. Nichtsdestoweniger glaube ich, dass diese Betrachtungsweise gerade dann, wenn es um Pirandellos Verhältnis zum “Deutschen” oder zu den Deutschen geht, worunter natürlich nur die deutsche Kultur und Zivilisation gemeint sein kann, auch eine durchaus rationale und nicht zweckrationale Begründung haben kann.
Diese Begründung stand Pate zu dem Rahmenthema dieses Symposiums, bei dem das Deutsche Pirandello-Zentrum sich sozusagen mit den beiden in seinem Namen verschwisterten Elementen beschäftigen will, nicht zufällig in dem Augenblick, in dem die deutsche Pirandello-Ausgabe fertig geworden ist.
Denn in diesem Augenblick soll es nicht mehr nur um die ohnedies bereits mehrfach, wenigstens in Teilaspekten nachgezeichnete Rezeptionsgeschichte Pirandellos gehen; auch nicht um die immer wieder, wenn auch meist in leicht hyperbolischer Weise versuchte Bestimmung der “deutschen Quellen” unseres Autors: natürlich hat ihn die deutsche Romantik beeinflusst, natürlich die Philosophie Fichtes und Schopenhauers, natürlich gibt es Parallelen im Denken zu Nietzsche und im Ausdruck zum beginnenden Expressionismus; aber andererseits wissen wir spätestens seit Gösta Anderssons Studien auch sehr gut, dass die Punkte, in denen man wirklich von einem unmittelbaren Einfluss sprechen kann, eher aus dem französischen Schrifttum stammen, von heute eher weniger bekannten Autoren im Bereich der Psychologie und Philosophie.Der einzige in deutscher Sprache schreibende Autor, den Pirandello deutlich paraphrasiert, ist Max Nordau mit seiner Entartung, und auch das dürfte französisch vermittelt sein.
Nicht oder nicht nur um die beiden traditionellen literarischen Betrachtungsweisen Rezeption und Einflussforschung soll es hier also gehen; sondern auch, ja vor allem, um die Bedeutung, die die Berührung mit der deutschen Kultur (auch im Sinne von Alltagskultur) für Pirandello beziehungsweise die Popularität von Pirandellos Werk für diese deutsche Kultur gehabt hat.
Wie es sich für einen Einleitungsredner gehört, werde ich mich kurz halten und keine Antworten geben, sondern nur Fragen stellen, auf die wir in den kommenden zwei Tagen und natürlich auch noch danach Antworten suchen wollen.
Die erste Frage betrifft die Bedeutung des Deutschland-Erlebnisses für die Wahrnehmung der kulturellen Differenz. Ich glaube, dass dieser Aspekt für Pirandellos sogenannten Relativismus fundamental ist. Weit mehr als die Erkenntniskritik des deutschen Idealismus, als die philosophische Argumentation eines Fichte oder Schopenhauer hat Pirandellos Erleben der Welt als subjektiver Vorstellung sein Aufenthalt in Bonn geprägt, bei dem er lernte, dass Mädchen, die des Nachts fremde Männer auf der Gasse ansprechen, nicht notwendigerweise Prostituierte sind, und dass die längere Unterhaltung mit Freunden anderen Geschlechts in einem Privathaus nicht notwendigerweise zur Ehe oder zum Ehrverlust führen muss.
Die Tatsache, dass der Sizilianer Pirandello im Spätherbst in den beginnenden rheinischen Karneval geriet, führt also dazu, dass der 22jährige Pirandello erkennt, dass das eingelernte System der Dekodierung sozialen Verhaltens nicht allgemein gültig ist (obwohl auch das wilhelminische Deutschland wohl nicht gerade als ein Reich der Freiheit von sozialer Determination gelten kann). In den Briefen nach Hause übersetzt er, was er erlebt, und beim Übersetzen gerät der andere sozusagen in die Rolle des eigenen, getäuschten und sich nun selbst eines besseren belehrenden Ichs: “das ist nicht das, was du glaubst”, heißt es da immer wieder; oder “Würde ich das einem meiner sizilianischen Freunde erzählen, würde der ein Auge zukneifen, als wollte er sagen: Ich verstehe sehr gut, worum es sich handelt! Und ich würde ihn auf der Stelle einen Dummkopf heißen”.
Natürlich, in diesen Briefen präsentiert sich Pirandello noch als Aufklärer, spricht von der “vernünftigeren und natürlicheren” Erziehung im Norden, aber um den pädagogischen Impuls geht es eigentlich nicht, den wird der Skeptiker bald schon wieder verlieren; es geht darum, daß er, wie später der Humorist im Angesicht der in peinlicher Weise auf jugendlich geschminkten alten Frau, gelernt hat, das Bedeutungspotential als Zeichen aufgefassten sozialen Verhaltens nicht mehr nur auf den eigenen Code zu beschränken, sondern die Welt auch mit den Augen anderer anzusehen.
Dieser befreienden oder relativierenden Wirkung entgegengesetzt ist die Wirkung der deutschen Philologie, deretwegen man ihn nach Bonn geschickt hatte. Bei aller Sympathie für seinen Lehrer Förster und allem Interesse für die romanischen Literaturen, angesichts der strengen Methoden positivistischer Philologie fühlt Pirandello sich geradezu vergewaltigt: “Ich habe von früh bis spät romanische Philologie zu studieren, meine Lieben; und das ist eine Wissenschaft, die den Magen verdirbt. Den Magen verdirbt sie und das Gehirn lässt sie einschrumpfen, wenn sie nicht überhaupt die Quelle der Gedanken austrocknet. Aber wir leben nun einmal in diesem Jahrhundert, und da kann man nichts machen: wir müssen alle gleich sein, also alle gemeines Volk…. Das, meine Lieben, sind die Lichter der modernen philologischen Wissenschaft, der sogenannten historischen Methode. Und wenn ihr armen Würmer euch ein Herz fasst und bemerkt, dass all dies für die Menschheit doch ganz ohne Belang sei, dann seid ihr schlecht dran! Man nennt euch Esel, man überschüttet euch geradezu mit Beschimpfungen, mit wahrhaft grässlichen Beschimpfungen wie dieser zum Beispiel: Dichter! DICH-TER! Einfach so, rundheraus, als würde man sagen: Diebe!, Leute, die keinen Respekt verdienen! Leute die immer noch denken, so eine Schande! Abschaum! Entsetzen! Lasst sie reden. Ich sag’s Euch im Vertrauen: das sind alles Irre, degenerierte Irre!”
Aber trotz dieser Abneigung gegen die Pedanterie der deutschen Wissenschaft hat Pirandello sich nach seiner Rückkehr stets mit ihr geschmückt. Dieses zwiespältige Verhältnis drückt sich auch in den durchwegs leicht karikierend gezeichneten Gestalten aus, die als italienische Forscher einen “Kampf” gegen den deutschen “Wissenschaftsimperialismus” ausfechten wie der alte Professor Lamis in der Novelle L’eresia catara oder der bourbonentreue Fürst Ippolito Lauretano aus Die Alten und die Jungen. In dem “Sumpf der Hauptstadt”, der gerade in diesem Roman beschrieben wird und den Sturz der garibaldinischen Ideale mit sich bringt, ist es gerade die “deutsche” Perspektive, die ihm eine Distanznahme ermöglicht, und allmählich so etwas wie ein verlorenes Paradies bildet, nach dem er sich (nicht nur in den ersten verliebten Briefen an Jenny Schulz-Lander) zurücksehnt. Und nach dem finanziellen Zusammenbruch des Vaters ist es zu guter Letzt das in den Briefen verächtlich “Stück Papier” genannte deutsche Doktordiplom, das es ihm ermöglicht, mit seiner Familie zu überleben.
Die Familie: Da sind wir beim nächsten kulturwissenschaftlichen Problem: Der in Rom lebende deutsch akkulturierte Sizilianer Pirandello heiratet zwei Jahre nach seiner Rückkehr zwar nicht die ursprünglich mit ihm – halb gezwungen – verlobte Cousine, wohl aber die ihm völlig unbekannte Tochter eines reichen Geschäftspartners der Firma Pirandello & Co. Diese unbekannte Braut versteht den relativistischen Umgang mit Zeichen nicht: Sie ist in einer von der wahnhaften Eifersucht des Vaters geprägten Welt aufgewachsen, in der jeder Blickkontakt mit einem Lebewesen anderen Geschlechts als Sünde aufgefasst wurde. Ihr erscheint nun umgekehrt jede auch noch so unschuldige Unterhaltung ihres Mannes mit einem weiblichen Wesen als erotische Bedrohung, was sich unter dem Eindruck des Konkurses schließlich zu dem bekannten Wahn steigert.
Michael Rössner
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