Nichts – 1922

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Nichts
Gravur von 1719 mit Alceste (links), Protagonist des Stücks der Misanthrop von Moliere

Erstveröffentlichung in Il Mondo vom 16. April 1922. Zahlreiche Änderungen im Text letzter Hand.

aus dem Italienischen von Michael Rössner

Nichts

Die Droschke, die eilig und lärmend durch die Nacht über den großen leeren Platz fährt, hält vor dem kalten Lichtschein der Milchglasscheibe einer Apotheke an der Ecke der Via San Lorenzo. Ein Herr im Pelz springt heraus und stürzt sich auf die Klinke dieser Glastüre, um zu öffnen. Er drückt hierhin, er drückt dorthin – was, zum Teufel? – die Türe geht nicht auf.

“Versuchen Sie doch zu klingeln”, rät ihm der Kutscher.

“Wo, wie klingelt man hier?”

“Sehen Sie doch, da ist der Knopf. Anziehen müssen Sie.”

Der Herr zieht mit wütender Gewalt an.

“Schöne Nachtdienstbereitschaft ist das!”

Und seine Worte dampfen im Nachtfrost, im roten Lichtschein der Laterne, als lösten sie sich in weiße Wölkchen auf.

Klagend dringt vom nahegelegenen Bahnhof der Pfiff eines abfahrenden Zuges herüber. Der Kutscher holt die Uhr aus der Tasche, beugt sich zu einer der Laternen hinüber und sagt:

“Hm, bald drei…”

Endlich kommt der junge Apothekergehilfe ganz steif noch vom Schlaf, den Kragen der Jacke bis über die Ohren hochgezogen, um aufzuschließen.

Und sofort fragt der Herr: “Ist ein Arzt da?”

Aber der Junge springt zurück, als er auf dem Gesicht und auf den Händen den Frost von draußen spürt, wirft die Arme in die Höhe, streckt die Fäuste aus und beginnt sich die Augen zu reiben und zu gähnen: “Um diese Zeit?”

Dann, um die wütenden Proteste des Kunden zu unterbrechen, der – aber ja, mein Gott, natürlich – all diese wütende Erregung hat natürlich ihre Berechtigung, wer will denn das leugnen – aber er müßte auch ein bißchen Verständnis für jemanden aufbringen, der um diese Zeit wirklich allen Grund hat, schläfrig zu sein – na bitte, da nimmt er schon die Hände von den Augen und bedeutet ihm erst einmal zu warten; dann, ihm zu folgen, hinter die Theke, in das Laboratorium der Apotheke.

Der Kutscher unterdessen, der draußen geblieben ist, steigt von seinem Kutschbock und möchte sich die Befriedigung gönnen, sich die Hose aufzuknöpfen, um dort ganz offen, im Angesicht des riesigen, leeren Platzes, der von den schimmernden Straßenbahngleisen durchschnitten wird, das zu tun, was untertags nicht ohne die entsprechenden Folgen getan werden könnte.

Denn es ist auch ein Vergnügen, während da einer unter der Last einer Sorge stöhnt, die ihn zwingt, andere um Hilfe und Beistand zu bitten, in aller Ruhe so ein kleines, natürliches Bedürfnis zu befriedigen und dabei zu sehen, wie alles an seinem Platz bleibt: dort die schwarzen Eichen, die in Reih und Glied den Platz einsäumen, die hohen gußeisernen Rohre, die das Netz der Straßenbahndrähte tragen, all diese leeren Monde auf den Laternenpfählen, und hier die Gebäude des Zollamts neben dem Bahnhof.

Das Laboratorium der Apotheke hat eine niedrige Decke und ist ganz von Regalen eingefaßt. Die Luft ist verpestet vom Geruch der Medizinen. Ein schmutziges Öllämpchen, das vor einem Heiligenbild auf dem Regal gegenüber der Türe angezündet ist, scheint nicht einmal sich selbst Licht geben zu wollen. Der Tisch in der Mitte, vollgeräumt mit Röhren, Gläsern, Waagen, Mörsern und Trichtern, erlaubt es zunächst gar nicht zu erkennen, ob auf dem schäbigen Lederkanapee, dort unter dem Regal gegenüber der Türe, tatsächlich der Notarzt schläft.

“Da ist er, er ist schon da”, sagt der Apothekergehilfe und zeigt auf eine riesige Männergestalt, die da schmerzlich verkrümmt und zusammengekauert schlummert, das Gesicht gegen die Rückenlehne gequetscht.

“Na, dann wecken Sie ihn doch, zum Donnerwetter!”

“Tja, das sagt sich so leicht! Der ist imstande und versetzt mir einen Tritt, wissen Sie?”

“Aber er ist doch der Arzt?”

“Der Arzt, jawohl. Doktor Mangoni.”

 “Und der teilt Tritte aus?”

“Na, verstehen Sie, wenn man ihn um diese Zeit weckt…”

“Dann werde eben ich ihn wecken!”

Und der Herr beugt sich entschlossen über das Kanapee und schüttelt den Schlafenden: “Doktor! Doktor!”

Doktor Mangoni stößt einen brüllenden Laut aus unter dem zerzausten Bart, der ihm die Wangen bis fast unter die Augen bedeckt; dann stemmt er die Fäuste gegen die Brust und hebt die Ellbogen, um sich zu strecken. Endlich setzt er sich verkrümmt auf, die Augen noch immer geschlossen unter den buschigen Augenbrauen. Eines seiner Hosenbeine ist über dem dicken Wulst der Waden hochgerutscht und gibt den Blick auf die Unterhosen aus Tuch frei, die auf altmodische Weise mit einer Schnur über dem groben schwarzen Baumwollstrumpf festgebunden sind.

“Doktor, ich bitte Sie, rasch…” – sagt der Herr ungeduldig. “Ein Fall von Erstickungsgefahr…”

“Mit einem Kohlebecken?” fragt der Doktor, sich umwendend, aber ohne die Augen zu öffnen. Er hebt die Hand in einer melodramatischen Geste und bemüht sich, die Stimme aus der noch schlafenden Kehle zu holen, während er die Arie aus der Oper Gioconda anstimmt: “Suicidio? In questi fieeeriii momenti…”[1]

Der Herr macht eine Geste der Verwunderung und der Empörung. Aber Doktor Mangoni wirft sofort den Kopf zurück und sagt, während er beginnt, erst einmal ein Auge zu öffnen: “Entschuldigen Sie, handelt es sich um einen Verwandten von Ihnen?”

“Nein! Aber ich bitte Sie, beeilen Sie sich. Ich werde Ihnen alles unterwegs erklären. Mein Wagen wartet draußen. Wenn Sie etwas mitzunehmen haben…”

“Ja, gib mir… gib mir…” beginnt Doktor Mangoni, während er versucht, sich zu erheben, zu dem Apothekergehilfen gewandt.

“Das mach ich schon, das mach ich schon, Herr Doktor”, antwortet dieser, knipst das elektrische Licht an und macht sich plötzlich mit einer fröhlichen Eile zu schaffen, die den nächtlichen Kunden beeindruckt.

Doktor Mangoni verdreht den Kopf wie ein Ochse, der mit den Hörnern zum Stoß ansetzt, um die Augen vor dem plötzlichen Lichtschein zu schützen.

“Jaja, braves Kind”, sagt er. Aber du hast mich blind gemacht. He, und mein Helm? Wo ist der?”

Der Helm ist sein Hut. Er hat ihn, jawohl. Er hat ihn ganz sicher, da gibt’s gar nichts. Er erinnert sich, ihn, ehe er eingeschlafen ist, auf den Hocker neben das Kanapee gelegt zu haben. Wo ist er bloß hin?

Er beginnt ihn zu suchen. Der Kunde sucht mit; schließlich sucht auch noch der Kutscher, der hereingekommen ist, um sich in der Apotheke ein bißchen aufzuwärmen. Und unterdessen hat der Apothekergehilfe bequem Zeit, ein Paket mit Geräten und Medizinen für die Erste Hilfe zusammenzustellen.

“Die Injektionsspritze, Herr Doktor, haben Sie die?”

“Ich?” wendet sich Doktor Mangoni so verwundert um, daß er bei dem Jungen einen Lachanfall auslöst.

Gut, gut. Sagen wir also, Senfpapier. Acht Stück, wird das genug sein? Koffein, Strychnin. Eine Pravaz. Und Sauerstoff, Herr Doktor? Sie werden doch auch einen Sauerstoffballon brauchen?

“Den Hut brauch ich! Den Hut! Zuerst einmal den Hut!” brüllt Doktor Mangoni schwer atmend. Und er erklärt den Zuhörern, er hänge unter anderem deshalb so sehr an diesem Hut, weil es sozusagen ein historischer Hut wäre: vor elf Jahren habe er ihn gekauft, anläßlich des feierlichen Begräbnisses von Schwester Maria dell’Udienza, der Oberin des Nachtasyls im Vicolo del Falco in Trastevere[2], wo er sich häufig einfindet, um ganz ausgezeichnete Teller billiger Klostersuppe zu essen, und manchmal auch, um zu schlafen, wenn er gerade nicht Dienst in den Apotheken hat.

Endlich findet sich der Hut, nicht im Laboratorium, sondern dort drüben unter der Theke der Apotheke. Das Kätzchen hat mit ihm gespielt.

Der Kunde bebt vor Ungeduld. Aber nun folgt eine weitere lange Diskussion, denn Doktor Mangoni, den verdrückten Hut in der Hand, will nun um jeden Preis beweisen, daß das Kätzchen ganz sicher, auch das Kätzchen damit gespielt hat, vor allen Dingen aber er, der Apothekergehilfe, dem Hut auch noch einen Fußtritt versetzt haben muß, so daß er unter der Theke so stark verbeult worden ist. Na gut. Ein Faustschlag in die Zylinderröhre, so daß die Faust wie durch ein Wunder nicht auf der anderen Seite wieder zum Vorschein kommt, und Doktor Mangoni stülpt sich den Zylinder ein wenig schief auf den Kopf.

” Ganz zu Ihren Diensten, hochgeschätzter Herr!”

“Ein armer Junge”, beginnt der Herr sofort, als er wieder in die Droschke einsteigt und die Decke über den Beinen des Doktors und den eigenen ausbreitet.

“Ach, das ist eine gute Idee! Dankeschön.”

“Ein armer Junge, der mir von einem meiner Brüder so sehr ans Herz gelegt worden war. Ich sollte ihm eine Anstellung besorgen. Jaja, verstehen Sie, als ob das die einfachste Sache der Welt wäre: Hopphopp, da ist sie schon. Die übliche Geschichte. Die Leute in der Provinz leben wirklich wie in einer anderen Welt. Sie glauben, es genüge schon, nach Rom zu kommen, und gleich findet sich eine Anstellung da: Hopphopp, da ist sie schon. Eine der üblichen verkrachten Existenzen, Sie wissen schon: der Sohn eines Landarbeiters, der vor zwei Jahren im Dienst meines Bruders verstorben war. Er kommt nach Rom, und was will er da tun? Nichts, Journalist werden, sagt er. Er legt mir seine Zeugnisse vor: das Abgangszeugnis des Gymnasiums und eine Gedichtsammlung; und dazu sagt er: “Sie müssen mir eine Anstellung bei einer Zeitung besorgen.” Ich! Na, der spinnt ja! Ich kümmere mich sofort darum, ihm auf der Polizei die Heimreiseerlaubnis zu besorgen. Und einstweilen – konnte ich ihn da nachts auf der Straße stehen lassen? Er war ja fast nackt, halbtot vor Kälte, mit einem schäbigen Tuchanzug, der ihm um den Leib flatterte, dazu zwei oder drei Lire in der Tasche; mehr waren es bestimmt nicht. Ich habe ihm also ein Obdach verschafft, in einem Häuschen, das mir gehört, hier im San Lorenzo-Viertel. Vermietet ist es, an Leute, ich sage Ihnen… na, lassen wir das. Kerle, die zwei möblierte Zimmerchen noch untervermieten. Seit vier Monaten bezahlen sie die Miete nicht. Das nütze ich aus und stecke ihnen den Jungen zum Schlafen ins Haus. Na gut! Es vergehen fünf Tage; noch immer keine Möglichkeit, den Heimfahrtschein von der Polizei zu bekommen. Die Umständlichkeit dieser Beamten! Die sind wie die Vögel, wissen Sie – überall müssen sie ihre Häufchen hinmachen, verzeihen Sie den Ausdruck! Um diesen Schein auszustellen, müssen sie zuerst wasweißich für Aktenauskünfte aus seinem Heimatort einholen, dann noch die ganzen Formalitäten auf der Polizei hier. Na gut: heute abend war ich im Theater, im Teatro Nazionale. Da kommt ganz entsetzt der Sohn meiner Mieterin um Viertel nach Zwölf zu mir ins Haus, weil dieser unglückselige Kerl sich, wie er sagt, mit angezündetem Kohlebecken in seinem Zimmer eingeschlossen hat. Und das seit sieben Uhr abends, verstehen Sie?”

An dieser Stelle beugt sich der Herr ein bißchen vor, um den Doktor im Fond der Kutsche zu betrachten, der während seiner Erzählung kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben hat. Da er Angst hat, er könnte wieder eingeschlafen sein, wiederholt er, ein wenig lauter: “Seit sieben Uhr abends!”

“Wie angenehm dieses Pferdchen trabt”, sagt daraufhin Doktor Mangoni, der sich genüßlich in der Kutsche ausgestreckt hat.

Dem Herrn ist es, als habe er in der Dunkelheit einen Faustschlag auf die Nase erhalten.

“Aber entschuldigen Sie, Herr Doktor, haben Sie gehört, was ich gesagt habe?”

“Ja, natürlich.”

“Seit sieben Uhr abends. Von sieben bis Mitternacht, fünf Stunden also.”

“Ganz genau.”

“Er atmet aber noch, wissen Sie! Ganz schwach. Seine Muskeln sind ganz verkrampft, und…”

“Ach, wie herrlich! Das muß… ja, warten Sie, drei… oder nein, was sag’ ich denn?… mindestens fünf Jahre muß das her sein, daß ich nicht mehr mit einer Kutsche gefahren bin. Wie angenehm man hier drinnen fährt!”

“Aber entschuldigen Sie, ich erzähle Ihnen…”

“Ja natürlich. Aber beruhigen Sie sich doch, was soll mir denn die Geschichte dieses unglückseligen Kerls schon bedeuten?”

“Ich will Ihnen ja nur sagen, daß es fünf Stunden waren…”

“Na gut! Gleich werden wir sehen! Glauben Sie eigentlich, Sie würden ihm einen großen Dienst erweisen?”

“Wie bitte?”

“Aber ja, verzeihen Sie! Eine Verwundung im Duell, ein Dachziegel auf den Kopf, irgendein Unfall… na gut, Hilfe leisten, einen Arzt holen, das versteh’ ich noch. Aber wenn so ein armer Kerl, Sie verzeihen, sich da in aller Stille zusammenkauert, um zu sterben?”

“Wie bitte?”, wiederholte der Herr, mehr denn je entgeistert.

Und Doktor Mangoni setzte völlig ruhig und ungerührt fort: “Haben Sie ein bißchen Geduld. Das meiste hatte er ja schon getan, der Ärmste. Statt Brot hatte er sich Kohlen gekauft. Ich stelle mir vor, er wird die Türe verrammelt haben, nicht wahr? Alle Löcher verstopft… vielleicht hat er sich zuvor mit Opium betäubt; fünf Stunden waren schon vergangen; und da stören Sie ihn gerade dann, wenn es darauf ankommt!”

“Sie machen Witze!”, schreit der Herr.

“Nein, nein. Ich spreche ganz im Ernst.”

“Ach zum Teufel!”, bricht da der Herr heraus. “Aber ich bin es ja, der gestört worden ist, will mir scheinen! Man ist ja mich holen gekommen.”

“Ich verstehe, ja, aus dem Theater.”

“Hätte ich ihn sterben lassen sollen? Und dann? Jede Menge neuer Scherereien, nicht wahr? Als ob die nicht schon genug gewesen wären, die er mir bislang bereitet hat. Solche Sachen macht man nicht in fremden Häusern, entschuldigen Sie!”

“Ah ja, das schon; was das anbelangt, haben Sie ganz recht”, räumt Doktor Mangoni mit einem Seufzer ein. “Er hätte rausgehen können, um draußen im Stehen zu sterben, sagen Sie. Da haben Sie recht. Aber das Bett ist eine Versuchung, wissen Sie? Eine große Versuchung. Wie ein Hund auf dem Boden zu sterben… Lassen Sie sich das von einem sagen, der keines hat!”

“Kein was?”

“Kein Bett.”

“Sie?”

Doktor Mangoni zögert mit der Antwort. Dann sagt er langsam, mit dem Tonfall eines Menschen, der schon so oft Gesagtes wiederholt:

“Ich schlafe, wo ich kann. Ich esse, wenn ich kann. Ich kleide mich, wie ich kann.”

 

Und sofort fügt er hinzu: “Aber glauben Sie nicht, daß es mir etwas ausmacht. Ganz im Gegenteil. Ich bin ein großer Mann, wissen Sie das? Aber ich habe verzichtet.”

Der Herr beginnt sich für diesen seltsamen Arzt zu interessieren, auf den er da durch Zufall gestoßen ist; und er fragt lachend: “Verzichtet? Was heißt verzichtet?”

“Daß ich rechtzeitig begriffen habe, lieber Herr, daß sich nichts dafürsteht. Und daß man im Gegenteil, je mehr man sich abmüht, groß zu werden, immer kleiner wird. Zwangsläufig. Entschuldigen Sie, haben Sie eine Frau?”

“Ich? Jawohl.”

“Mir scheint, Sie haben geseufzt, als Sie Jawohl sagten.”

“Aber nein, ich habe nicht im geringsten geseufzt.”

“Na dann genug davon. Wenn Sie nicht geseufzt haben, reden wir nicht mehr davon.”

Und Doktor Mangoni kauert sich wieder im Fond der Kutsche zusammen und gibt so deutlich zu verstehen, daß er es nicht mehr für angebracht hält, die Konversation fortzusetzen. Der Herr ist verstimmt.

“Aber entschuldigen Sie mal, was hat meine Frau damit zu tun?”

In diesem Augenblick wendet sich der Kutscher auf seinem Kutschbock um und fragt: “Na hören Sie mal, wo ist das jetzt? Wir sind schon gleich in Campoverano!”

“Ach ja!” ruft der Herr aus. “Drehen Sie um! Umdrehen! Wir sind ja schon lange an dem Haus vorbei!”

“Es ist schade, umzudrehen”, sagt Doktor Mangoni, “wenn man schon fast am Ziel ist.”

Der Kutscher dreht um und flucht dazu.

Eine dunkle Treppe, die wie eine eingestürzte Höhle wirkt, düster, feucht und übelriechend.

“Au! Verflucht. Gottogott!”

“Was ist? Haben Sie sich weh getan?”

“Am Fuß. Auauau! Aber sagen Sie, hätten Sie nicht vielleicht ein Streichholz?”

“Verdammt! Ich suche die Schachtel. Nicht zu finden!”

Endlich ein Lichtschimmer, der aus einer offenstehenden Türe auf dem Treppenabsatz im dritten Stock dringt.

Wenn das Unglück in ein Haus kommt, zeichnet es sich immer dadurch aus, daß es die Türe offenläßt, damit jeder Fremde hereinkommen und seine Neugier befriedigen kann.

Doktor Mangoni folgt dem Herrn hinkend durch ein schäbiges Zimmer mit einem weißen Petroleumlämpchen auf dem Boden bei der Türe; dann geht der Herr, ohne irgendjemanden um Erlaubnis zu fragen, durch einen dunklen Gang mit drei Türen; zwei davon sind verschlossen, die dritte am Ende steht offen und ist schwach erleuchtet. Im Krampf des Schmerzes von der Verstauchung am Fuß, den Sauerstoffballon in der Hand, überkommt ihn die Versuchung, ihn diesem Herrn auf den Rücken zu werfen, damit er zerplatzt; aber dann legt er ihn auf den Boden, bleibt stehen, stützt sich mit einer Hand gegen die Mauer, zieht den Fuß in die Höhe und umfaßt ihn mit der anderen Hand fest am Knöchel, wobei er mit verzerrtem Gesicht versucht, ihn nach beiden Seiten zu drehen.

Unterdessen ist in dem Zimmer am Ende des Ganges, wer weiß warum, ein Streit zwischen diesem Herrn und den Mietern ausgebrochen. Doktor Mangoni läßt seinen Fuß aus und versucht, sich in Bewegung zu setzen, um zu erfahren, was da los ist, da kommt ihm wie ein Wirbelwind dieser Herr entgegengestürzt, der brüllt:

“Wie die Idioten, jawohl! Wie die Idioten!”

Er kann ihm gerade noch ausweichen. Als er sich umdreht, sieht er ihn in den Sauerstoffballon hineinlaufen. “Langsam! Langsam, um Himmels willen!”

Was heißt da langsam! Der Herr versetzt dem Ballon einen Fußtritt; da hat er ihn schon wieder zwischen den Füßen; wieder fällt er beinahe hin und läuft schließlich fluchend davon, während auf der Schwelle der Türe am Ende des Ganges ein plumper, lächerlicher Alter in Pantoffeln und Nachtmütze erscheint, einen dicken grünen Wollschal um den Hals geschlungen, aus dem ein aufgedunsenes rotes Gesicht hervorschaut, das die Stearinkerze in der Hand beleuchtet.

“Aber entschuldigen Sie… ich meine, wäre es denn vielleicht besser gewesen, wir hätten ihn hier sterben lassen, während wir auf den Arzt warten?”

Doktor Mangoni glaubt, er spreche zu ihm und antwortet: “Hier bin ich. Das bin ich.”

Aber der Mann hebt die Hand mit der Kerze, betrachtet ihn und fragt ihn wie betäubt: “Sie? Wer?”

“Sagten Sie nicht eben, der Arzt?”

“Was heißt da Arzt! Was heißt da Arzt!” erhebt sich da eine schrille Frauenstimme aus dem Zimmer dahinter.

Und damit stürzt die Frau dieses würdigen Alten in Pantoffeln und Nachtmütze auf den Gang, ganz aufgelöst, in eine Wolke grauer Haare und Locken gehüllt, die schwarz umrandeten Augen geschwollen und verweint, der obszön geschminkte Mund, der ihr quer ins Gesicht schneidet, zittert vor Erregung. Sie reckt den Kopf nach der Seite, um auszuspähen, und setzt in herrschaftlichem Ton hinzu:

“Sie können gehen! Sie können gehen! Wir brauchen Sie nicht mehr. Wir haben ihn ins Spital bringen lassen, weil er beinahe gestorben wäre!”

Und dann stößt sie ihrem Mann kräftig gegen den Arm und fordert: “Schick ihn fort!”

Aber der Mann stößt einen Schrei aus und springt in die Höhe, weil der Stoß gegen den Arm ihm die heißen Wachstropfen der Kerze auf die Haut hat spritzen lassen.

“Na, na, immer sachte, zum Teufel!”

Doktor Mangoni wehrt sich, allerdings ohne allzu viel Nachdruck, er sei doch kein Dieb und auch kein Mörder, daß man ihn so wegschicken könne; wenn er gekommen ist, dann deshalb, weil man ihn aus der Apotheke geholt hat, vom Bereitschaftsdienst; und bis jetzt hat er sich damit bloß einen verstauchten Fuß eingehandelt, weshalb er auch bitten würde, daß man ihn sich wenigstens ein bißchen hinsetzen läßt.

“Aber ich bitte Sie, natürlich, hier, kommen Sie, nehmen Sie Platz, nehmen Sie Platz, Herr Doktor”, sagt der Alte schnell und führt ihn in das Zimmer am Ende des Ganges, während die Frau, den Kopf noch immer nach einer Seite gereckt, um auszuspähen wie ein verärgertes Huhn, mustert ihn sorgfältig, ganz beeindruckt von diesem wilden Bart, der bis zu den Augen reicht.

“Ach, weiß Gott”, sagt sie nun besänftigt, als eine Art Entschuldigung, “wenn man Gutes tut und sich dafür auch noch Vorwürfe anhören muß!”

“Jawohl, Vorwürfe”, hakt der Alte ein, während er die brennende Kerze in das Loch des Kerzenhalters auf dem Nachttisch neben dem leeren, aufgeschlagenen Bett steckt, dessen Kopfkissen noch den Eindruck des Kopfes dieses jungen Selbstmörders zeigen. In aller Ruhe streift er sich dann die Wachstropfen von den Fingern und fährt fort: “Denn er sagt: Nichts da, meine Herrschaften, man hätte ihn nicht ins Spital bringen dürfen, auf keinen Fall.”

“Ganz schwarz angelaufen war er!” schreit die Frau dazwischen. “Ach, dieses Gesicht. Wie ausgesaugt sah es aus. Und was der für Augen hatte! Und diese Lippen, ganz schwarz, die hier, hier, gerade so ein bißchen von den Zähnen sehen ließen. Atem hatte er auch keinen mehr…”

Und sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

“Hätten wir ihn denn ohne Hilfe sterben lassen sollen?” fragt der Alte wiederum in aller Ruhe. “Aber warum hat er sich nur so darüber geärgert? Weil er vermutet – sagt er – daß dieser arme Bursche ein unehelicher Sohn seines Bruders sein könnte.”

“Und da hatte er ihn uns hier hereingeworfen”, springt die Frau wieder in die Höhe, man weiß nicht recht ob aus Ärger oder aus Rührung. “Hierher, damit in meinem Haus diese Tragödie ausbrechen mußte, die noch lange nicht zu Ende ist, denn meine Tochter, die ältere, die hat sich in ihn verliebt, verstehen Sie? Wie eine Verrückte, als sie ihn sterben sah, da hat sie – Gott, was für ein gräßliches Schauspiel – da hat sie ihn auf die Schultern gehoben – also ich weiß nicht, wie sie das angestellt hat! – und hat ihn fortgetragen, mit der Hilfe ihres Bruders, da über die Stiegen runter, in der Hoffnung, auf der Straße eine Droschke zu finden. Vielleicht haben sie eine gefunden. Und sehen Sie mir nur einmal diese andere Tochter an, wie die heult.

Doktor Mangoni hat beim Eintreten schon für einen kurzen Augenblick in dem Eßzimmer daneben ein Mädchen mit blondem, zerzaustem Haar gesehen, das, die Ellbogen auf den Tisch und den Kopf in die Hände gestützt, zu lesen schien. Sie liest und weint, ja; aber mit aufgeknöpftem Korsett, die rosigen, ausladenden Rundungen der Brust beinahe zur Gänze unter dem gelben Licht der von der Decke hängenden Lampe zur Schau stellend.

Der alte Vater, zu dem sich Doktor Mangoni nun ganz verdattert umwendet, vollführt mit den Händen Gesten der höchsten Bewunderung. Über die Brust der Tochter? Nein. Über das, was die Tochter dort unter so vielen Tränen liest. Die Gedichte des jungen Mannes.

“Ein Dichter!” ruft er aus. “Ein Dichter, der, wenn sie ihn hören würden… Ach, das sind Sachen! Sachen sind das! Ich verstehe was davon, ich bin nämlich Literaturprofessor im Ruhestand. Ganz große Kunst ist das, ganz große Kunst.”

Und er geht hinüber, um einige dieser Gedichte an sich zu nehmen; die Tochter wehrt sich jedoch wütend dagegen, weil sie fürchtet, die ältere Schwester würde ihr nicht mehr erlauben, sie zu lesen, wenn sie erst mit dem Bruder vom Spital nach Hause kommt. Dann wird sie sie eifersüchtig für sich allein haben wollen, wie einen Schatz, dessen einzige Erbin sie sein soll.

“Wenigstens ein paar, die du schon gelesen hast”, versucht es der Vater schüchtern noch einmal.

Aber das Mädchen das sich über den Tisch gebeugt hat und mit ihrer ganzen Brust die Blätter abschirmt, stampft mit dem Fuß auf und schreit: “Nein!” Dann rafft sie alle Blätter zusammen, preßt sie mit der Hand gegen die entblößte Brust und schleppt sie mit sich in ein anderes Zimmer.

Doktor Mangoni wendet sich noch einmal um, um dieses traurige, leere Bettchen zu betrachten, das seinen Besuch sinnlos macht; dann blickt er auf das Fenster, das in diesem düsteren Zimmer trotz des Nachtfrostes offen geblieben ist, um den Kohlegestank hinauszulassen.

Der Mond erleuchtet die Öffnung dieses Fensters. Mitten in der Nacht, der Mond. Doktor Mangoni stellt ihn sich so vor, wie er ihn so viele Male auf seinen Irrwegen durch ferne Straßen gesehen hat, wie er versunken und gleichsam entrückt auf dem Himmelsgewölbe steht, während die Menschen schlafen und ihn nicht mehr sehen.

Die schäbige Enge dieses Zimmers, dieses ganzen Hauses, eines der vielen Häuser der Menschen, in denen, um das nie abschließende Elend des Lebens zu perpetuieren, verführerisch zwei Frauenbrüste herumtanzen, solche wie die, die er eben für einen Augenblick unter dem Licht der Hängelampe in dem Zimmer dort drüben gesehen hat; all das flößt ihm in diesem Augenblick eine so eisige Mutlosigkeit und zugleich eine so bittere Wut ein, daß er beim besten Willen nicht mehr sitzen bleiben kann.

Fauchend erhebt er sich, um fortzugehen. Na schön, letzten Endes ist es einer der vielen Fälle, mit denen er immer zu tun hat, wenn er in den Nachtapotheken Bereitschaftsdienst versieht. Vielleicht ist er ein bißchen trauriger als die anderen, wenn man bedenkt, daß dieser arme Junge – wer weiß! – wahrscheinlich wirklich ein Dichter war. Aber in dem Fall ist es besser so: nämlich, daß er tot ist.

“Hören sie”, sagt er zu dem Alten, der ebenfalls aufgestanden ist, um wieder die Kerze zur Hand zu nehmen. “Dieser Herr, der Ihnen Vorwürfe gemacht hat, und der mich aus der Apotheke geholt hat, muß wirklich ein Dummkopf sein. Warten Sie: lassen Sie mich ausreden. Nicht deswegen, weil er Ihnen Vorwürfe gemacht hat, sondern deshalb, weil ich ihn gefragt habe, ob er eine Frau hätte, und er hat mit Ja geantwortet; aber ohne dazu zu seufzen. Haben Sie mich verstanden?”

Der Alte starrt ihn mit offenem Mund an. Sichtlich versteht er ihn nicht. Dafür versteht ihn die Frau, die in die Höhe springt und ihn fragt: “Warum sollte denn jemand Ihrer Ansicht nach seufzen, wenn er sagt, daß er eine Frau hat?”

Und Doktor Mangoni gibt sofort zurück: “Na, so wie ich meine, daß Sie seufzen werden, liebe Signora, wenn Sie jemand fragt, ob Sie einen Mann haben.”

Und dabei zeigt er mit dem Finger auf denselben. Dann setzt er fort: “Entschuldigen Sie, hätten Sie diesem jungen Mann, wenn er sich nicht umgebracht hätte, Ihre Tochter zur Frau gegeben?”

Die andere blickt ihn eine Weile von der Seite her an, dann antwortet sie herausfordernd: “Und warum nicht?”

“Und Sie hätten ihn dann zu sich in dieses Haus genommen?” fragt Doktor Mangoni weiter.

Und Sie antwortet wiederum: “Und warum nicht?”

“Und Sie”, fragt Doktor Mangoni noch immer weiter, diesmal zu dem alten Ehemann gewandt, “Sie, die Sie sich da auskennen, als Literaturprofessor im Ruhestand, hätten Sie ihm vielleicht geraten, seine Gedichte zu veröffentlichen?”

Um nicht hinter seiner Frau zurückzustehen, antwortet der Alte ebenfalls: “Und warum nicht?”

“Na dann”, schließt Doktor Mangoni trocken, “dann tut’s mir leid, aber ich muß Ihnen sagen, daß Sie wenigstens doppelt so große Dummköpfe sind wie jener Herr.”

Und er wendet sich zum Gehen.

“Darf man vielleicht erfahren, weshalb?” brüllt ihm die Frau in höchster Wut nach.

Doktor Mangoni bleibt stehen und antwortet ganz ruhig: “Haben Sie ein bißchen Geduld. Sie werden mir zugeben, daß dieser arme Junge wahrscheinlich von Ruhm und Ehre träumte, wenn er Gedichte schrieb. Nun denken Sie einmal ein bißchen nach: Was wäre für ihn aus diesem Ruhm geworden, hätte er diese Gedichte drucken lassen? Ein armseliges, unnützes Gedichtbändchen. Und aus der Liebe? Aus der Liebe, die das lebendigste, heiligste ist, was wir auf Erden erleben dürfen? Was wäre für ihn daraus geworden? Aus der Liebe – eine Frau. Ja, schlimmer noch: eine Ehefrau: Ihre Tochter.”

“He! He!” unterbricht ihn da die Frau drohend und fährt ihm beinahe mit den Krallen ins Gesicht: “Geben Sie acht, wie Sie von meiner Tochter sprechen!”

“Ich sage gar nichts”, wehrt Doktor Mangoni eilig ab. “Im Gegenteil: Ich stelle sie mir wunderschön vor und als ein Muster an Tugend dazu. Aber doch immer noch als eine Frau, liebe Signora, die nach kurzer Zeit, mein Gott, das wissen wir doch alle, mit dem Elend und den Kindern, erbärmlich heruntergekommen wäre. Und was wäre für ihn aus der Welt geworden, sagen Sie mir das? Aus der Welt, in die ich nun mit diesem Fuß, der mir so höllisch weh tut, hinauslaufen werde; sehen Sie doch, liebe Signora, was für ihn aus der großen weiten Welt geworden wäre: ein Haus. Dieses Haus. Haben Sie mich verstanden?”

Und während seine Hände in seltsamen Gesten des Ekels und des Abscheus zucken, läuft er fort, hinkend und vor sich hinbrabbelnd:

“Was heißt da Bücher! Was heißt da Frauen! Was heißt da Haus! Nichts… nichts… nichts… Verzichten! Verzichten! Nichts.”


 [1] – dt.: “Selbstmord? In dieser heeeeehren Zeit…”

 [2]– Dieses Obdachlosenasyl ist auch der Schauplatz der ersten Kapitel des Romans “Serafino Gubbio” – siehe Bd.1.

© Michael Rössner.

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