Lucilla (nun, da sie sich’s mit den Nonnen verdorben hat) – 1932

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In Italiano – Lucilla (Ora che s’è guastata con le monache)  (1932)

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Lucilla von Luigi Pirandello
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aus dem Italienischen von Michael Rössner

Lucilla (nun, da sie sich’s mit den Nonnen verdorben hat)

Eine Wiese in der Sonne, frisches Gras, Klangfäden inmitten der Stille, die erscheint wie eine einzige Verzückung. Verzückung darüber, wie hier sich die goldenen Blüten entzünden und dort die roten lichterloh brennen.

Aber schon beginnt er herabzusinken, schräg und bedrohlich, der blaue Schatten des Klosters mit dem plumpen Kreuz auf der Spitze des Giebels, das sich so sehr in die Länge zieht, daß es gegen das weiße Mäuerchen prallt, das die Klostergärten schützt, und sich zerbrochen an ihm aufrichtet.

Lucilla, die schon eine ganze Weile gegen die Mauer des Klosters gelehnt hatte, hörte zu Weinen auf, als ihr plötzlich der Schatten dieses Kreuzes ins Auge stach.

Ist denn das die Möglichkeit, so lang?

Immer schon hat sie gedacht, wenn sie ihre Blicke bis da hinaufschickte, daß sie es doch ein bißchen weniger plump hätten machen können, dieses kleine Kreuz; im Grunde jedoch, ohne daß sie es sich vorgesagt hätte, fand sie es durchaus in Ordnung, daß es so da droben auf dem spitzen Giebel kauerte, ohne je die Sehnsucht zu zeigen, sich ein bißchen zu strecken, um zu einem schlanken und hohen Kreuz zu werden, das in den Himmel ragte.

Und nun, jetzt, da die Sonne darauf scheint, vergönnt es sich plötzlich dieses Vergnügen, und gleich in so unwahrscheinlich übertriebener Form: Bumm! Gleich bis zur Mauer hin… Und wenn dann sie, Lucilla, sich in die Sonne legt, bis wohin würde sie wohl reichen?

Sie tritt aus dem Schatten heraus und läßt sich auf der Wiese von der Sonne bescheinen.

Na, wie sieht sie aus?

Eine Mißgeburt, dazu noch schief.

Der Ärger, den sie darüber empfindet, steigert sich zusammen mit der Überraschung und dem Unverständnis für diese Erscheinung zu einer wilden Wut, eine Wut, die ihr die Eingeweide tief drinnen zusammenschnürt wie ein Seil, kaum, daß dort auf der Wiese der Schatten von jemand anderem hinzutritt, sich neben den ihren legt und ihn sofort übertrifft, bis er den ihren im Handumdrehen winzig erscheinen läßt, kleiner als den Schatten eines Kindes.

Sie fährt herum (denn sie hat den Schatten der Laienschwester erkannt, die sie holen kommt) und schreit ihr entgegen, die Fäuste vorgestreckt, mit einem zornverzerrten Gesichtchen und den Augen einer geprügelten Katze:

„Nein! Nein! Nein! Und wenn sie noch so sehr auf mich warten, ich gehe nicht mehr zurück! Ich gehe nicht mehr dahin zurück!

Und sie läuft in den Schatten und setzt sich wieder ins Gras, den Rücken an das Klostermäuerchen gelehnt.

Bei diesem Wutausbruch ist die Laienschwester stehen geblieben; sie folgt ihr mit den Blicken; dann will sie erneut auf sie zugehen, aber da springt die Kleine wieder in die Höhe, zur Flucht bereit, und die Schwester bleibt erneut stehen:

„Ach hör doch auf, sei nicht so dumm“, sagt sie. „Du bist doch kein kleines Mädchen mehr!“

Ein einziges Beben, das Gesicht blutrot angelaufen, das ihr bei diesen Worten in den Kopf gestiegen ist, ballt sie erneut die Fäuste und tritt ihr entgegen:

„Ach so? Das sagst du mir? Na, eben deshalb, weil ich kein kleines Mädchen mehr bin!“

Und die Worte selbst, während sie sie ausspricht, verursachen nach und nach dieses gräßliche Schauspiel in Lucillas Augen und Mund: die Augen, blutunterlaufen vom Weinen und funkelnd vor Wut, sprühen Tränen, und sofort werden sie mit diesen Tränen in dem kleinen Mädchengesicht Augen einer Erwachsenen; und die Stimme, die Stimme zwischen den gefletschten Zähnen, die wird zu der Stimme einer Frau, der nichts mehr fremd ist.

Bei diesem Schauspiel scheint die Laienschwester sich betrübt in sich selbst zu verschließen; sie wirkt noch gelber und noch magerer als zuvor; sie weiß nichts mehr zu sagen, holt schließlich aus dem schwarzen Umhangtuch, das sie um die Schultern gelegt hat, zwei vertrocknete Hände hervor, die aussehen, als wären sie aus abgewetztem Stein, und legt sie ineinander, um sie mitleidsvoll zu ringen.

„Aber was willst du bloß anfangen?“, fragt sie schließlich. „Wo willst du hin?“

Lucilla schüttelt sich: „Das lassen Sie nur meine Sorge sein! Kümmern Sie sich nicht darum!“

Die andere setzt sich in Bewegung, um ins Kloster zurückzugehen. Nach zwei Schritten, sich kaum umwendend, um ihr Weinen zu verbergen, seufzt sie, mit einer dieser Hände vor sich hin weisend:

„Da, dein Kloster…“

Damit geht sie.

In der Leere der Luft bleibt von ihrer Stimme so etwas wie der Schatten von dem zurück, was da war: das Bedauern und der Vorwurf. Und Lucilla sieht das Kloster an.

Dort ist sie geboren. Und tatsächlich, auch wenn sie es sich selber nicht mehr zugeben will, fühlt sie, wie sie an ihm hängt. Sie hängt an ihm, weil sie es statt als großes, sehr großes Kloster, wie sie es ja ruhig hätten machen können, als kleines, ganz kleines gebaut haben, als wäre es gerade für sie gemacht. So wie ihr Vater, der dort so viele Jahre Sakristan gewesen ist, gerade für sie die Möbelchen ihres Zimmerchens da drinnen gebastelt hat, ehe er starb: geradezu Puppenmöbelchen, damit sie sich nicht gekränkt fühlen sollte: das Bettchen, die Stühlchen, das Tischlein, alles in der richtigen Proportion für ihre Größe. Denn für diesen Vater und für diese Mutter, die sicherlich nicht zum Kinderkriegen gemacht war (immerhin starb sie ja, kaum daß sie sie so winzig klein auf die Welt gebracht hatte), ist sie stets wie eine aus weiter Ferne betrachtete Tochter gewesen, von dort aus, von ihrer Geburt, vor zwanzig Jahren. Und da diese Augen der Mutter, die sich von Jahr zu Jahr mehr entfernten, sie so ansahen, war das bißchen, was sie zu wachsen vermocht hat, bitte, hier, wenig, ganz wenig, eigentlich gar nichts: nur an Jahren ist sie gewachsen, aber wenn man sie ansieht, ist sie ein kleines Mädchen geblieben: das ist alles. Nein, keine Zwergin! Von einer Zwergin hat sie gar nichts! Im Gegenteil, wenn sie vorübergeht, drehen sich alle verwundert nach ihr um, so hübsch ist sie mit ihrem Lockenköpfchen auf dem schlanken Hals, das sie hierhin und dorthin drehen kann, wie sie will, und lauter Locken fliegen um sie herum wie viele kleine Schlangen; ihr Körper ist perfekt, eine Miniatur. Und sie weiß es, sie weiß es besser als alle anderen, wie ihr Körper ist, seit sie ihn kennen gelernt hat, aus den Blicken, mit denen gewisse Mannsbilder ihn verfolgen, diese Idioten!

Darin liegt der Hohn, die Wut, die Folter für sie: daß sie in ihrem Inneren, wenn sie denkt, ohne sich zu sehen, nunmehr ganz wie eine Große denkt, wie eine Frau, eine fertige Frau wie alle anderen. Wenn sie sich dann von diesen blöden bandagierten Schwesternköpfen als kleines Kind behandelt sieht, von ihnen, die, ja, sie schon, so alt sie auch sein mögen mit ihren Saure-Milch-Gesichtern, stets schauen, reden, kichern und sich benehmen wie dumme kleine Kinder; wenn sie sich von ihnen wie eine Puppe behandelt sieht, wie ein Spielzeug, das man aufnimmt und dann von den Armen der einen zu denen der anderen weitergibt, wobei sie alle herzen und damit ausnützen, keine will es wahrhaben, daß sie schon ganz Frau geworden ist; nein, da kann man nicht mehr aushalten, das darf man nicht mehr aushalten, das muß aufhören; es ist schon zu Ende. Sie hat heute drei oder vier von ihnen das Gesicht zerkratzt, als sie die Finger sich von selbst krümmen fühlte, und sie weiß gar nicht mehr, welche Unflätigkeiten und Beleidigungen sie ihnen ins Gesicht geworfen hat, mit Schaum vor dem Mund.

Sie haben ihr die Barmherzigkeit erwiesen, sie bei sich zu behalten, in diesem Zimmerchen, auch nachdem ihr Vater gestorben war? Na, danke vielmals, damit sie sich dieses Vergnügen verschaffen konnten, eine lebendige Puppe zu haben, mit der sie in der Freizeit zwischen den Gebeten ordentlich spielen konnten! Sie haben ihr, der Puppe, eigenhändig eine Aussteuer genäht, Kleider und Wäsche? Das wird sie ihnen alles zurücklassen, alles; sie wird nichts mitnehmen; so, wie sie ist wird sie noch heute abend zu Nino gehen.

Zu Nino, jawohl, zu Nino. Sehr bald schon. Um sieben. Nino hat es ihr selbst gesagt.

Sie wird zu ihm ziehen. Sie versteht sich auf alles: sie kann das Haus in Ordnung halten, ihm das Essen zubereiten, die Kleider in Ordnung halten, nähen und bügeln. Mit ihrem kleinen Bügeleisen hat sie Tröge voll von Wäsche gebügelt, dort im Kloster!

Und Nino weiß es sehr gut, daß sie schon eine Frau ist. Vom ersten Augenblick an, in dem auch er sie zum Scherz auf den Arm nahm, als er auf seinem gewohnten Gang am Abend auf der Wiese vorbeikam, auf dem Rückweg von der Koppel, wo er seine Pferde züchtet, mit seinem alten Hirtenhut, aber doch ganz als Herr, mit den schönen leuchtenden Gamaschen und den Sporen daran; schon damals, als er sie unter den Achseln faßte, hat er plötzlich, während er ihr mit beiden Daumen an die Brust griff, so eine schlitzohrige Geste mit dem Kopf gemacht, jawohl, und sie in so bestimmter Weise angegrinst, wobei er ein „Ahhh…“ der Überraschung und Bewunderung hervorstieß und sie mit ganz verzückten Augen ansah. Und sie stieß die Hände nach vorne, auf seine Wangen zielend, um den Mund abzuhalten, der sie zu küssen versuchte, dort, direkt an seiner Brust, dieser Nino. Was für Augen er hatte! Schwarz und lachend! Die gingen einem durch und durch, diese Augen! Und was für Zähne, wenn er lachte!

Schon sieben Uhr?

Seit sie dort auf der Wiese vor sich hingegrübelt hat, nachdem sie sich entschlossen hatte, mit den Nonnen Schluß zu machen, ist Lucilla wie trunken; sie sieht nichts mehr, sie läuft, fliegt wie ein von der Sonne geblendeter Schmetterling; und als sie sich endlich im Toreingang des Hauses wiederfindet, in dem Nino wohnt, scheint es ihr, als wäre sie nach der Art eines Kreisels hierhergeschwebt, in einem schwindelerregenden wilden Reigentanz. Sie kriegt gar keine Luft mehr; und jetzt, o Gott, jetzt muß sie all diese Stufen da hinauf, und was für Stufen! Bis in das oberste Stockwerk des alten verfallenen Bauernhauses.

Endlich kommt sie oben an, sich ein bißchen an der Mauer, ein bißchen am Geländer abstützend hat sie’s geschafft; aber als sie endlich oben ist, vor der Türe, da gelingt es ihr nicht, so sehr sie sich auch auf die Zehenspitzen stellt und das Ärmchen in die Höhe reckt, die viel zu hoch angebrachte Türglocke zu erreichen; und da beginnt sie mit ihren kleinen Fäusten auf die Türe einzuhämmern:

„Mach auf, Nino, mach auf! Ich bin es! Ich bin zu dir gekommen!“

In dem Dunkel des Raumes kann sie nicht deutlich ausmachen, wer ihr geöffnet hat. Neben sich spürt sie so etwas wie Stallgestank, während eine schwielige Hand unbeholfen nach der ihren tastet, um sie zu fassen, so wie man Kinder an der Hand nimmt, die man zu einem Erwachsenen hinführen will. Die Verwirrung, schlimmer noch, der Schrecken, die von ihr Besitz ergreifen, haben freilich nichts mit diesem Gestank zu tun, und auch nicht mit diesem unbeholfenen Akt, dem sie sich instinktiv entzieht; es ist vielmehr wegen dieses ungeheuren Durcheinanders von brüllendem Gelächter und lauten Stimmen, das aus dem anliegenden Raum dringt, zu dem die Türe nur angelehnt ist, wobei das aus dem Türspalt dringende Licht Lucilla den Eindruck vermittelt, da drinnen loderten und prasselten die Flammen wie in einem Backofen.

Lucilla beginnt zu zittern; sie möchte am liebsten davonlaufen; aber da springt die Türe auf; rohe, betrunkene Landmänner, in groben Samt gekleidet, mit Gamaschen und Sporen an den Beinen; tierische, rot angelaufene Gesichter, brüllend, schwankend, die Pranken nach ihr ausstreckend; sie ziehen sie hinein, mitten in eine Wolke aus Rauch; als wäre die Stimmung auf den Höhepunkt gelangt, dringt ein höhnisches Lachen aus allen Mündern; der eine legt die Pfeife zur Seite, der andere stellt Glas und Flasche weg, und dann stürzen sich alle auf sie; sie wollen auch mit ihr spielen, aber auf welch andere Weise! Sie quetschen sie, sie zerdrücken sie, sie wollen sie entblößen; und sie schreit, kreischt, schlägt um sich, bis endlich Nino, der auch grinst und sich förmlich in einem Lachkrampf windet, der ihm die Tränen in die Augen getrieben hat, sie mit einem kräftigen Ruck von den anderen befreit, worauf er sich wieder hinsetzt und sie schützend zwischen seine Beine nimmt, wobei er den anderen zuruft:

„Schluß! Basta! Ich fühle, wie ihr Herz klopft, o Gott, ja, ja freilich, ich fühle es hier am Knie, wie ihr Herz klopft!“

Er bemerkt nicht, daß Lucilla auf diesem Knie zusammengebrochen ist, und daß sie, würde er die Beine öffnen, wie ein feuchter Lappen ohnmächtig zu Boden fallen würde.

Dann packt er mit einer Hand einen schmuddeligen Bauernjungen von etwa vierzehn Jahren, einen Trottel, der, ganz zerzaust und gerührt (er war es, der die Türe öffnen gegangen war) neben ihm hockt, und schüttelt Lucilla, um ihn ihr vorzustellen:

„Da habe ich einen kleinen Bräutigam für dich! Nebenan ist schon alles für euch vorbereitet!“

Lucilla weiß nicht mehr, wie viel Zeit verstrichen ist; nicht, was dort wirklich geschehen ist; sie hat sich gewehrt, gewunden, befreit, gebissen, gekratzt, und jetzt geht sie durch die Nacht, sie weiß nicht wohin, eine kleine, ganz kleine Gestalt, über große, verlassene, unbekannte Straßen; sie ist wie von einem Wahn ergriffen, wie in Trance; und sie betrachtet, so klein wie sie ist, die riesenhaften Stämme der Bäume, deren Wipfel sie kaum zu erspähen vermag, und noch höher, viel höher, leere, erleuchtete Fenster, als wären sie im Himmel, in dem sie verschwinden möchte, verschwinden, wenn Gott, wie sie so sehr hofft, ihr endlich die Flügel dafür schenken wird.

© Michael Rössner.

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