Eine Stimme – Audiolesungen Hörbuch

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Stimme von Giuseppe Tizza. 
Was sollte er tun? Umdrehen? Für einen Augenblick dachte er daran, hätte er dieser armen Mutter bei seiner ersten Visite von seinem Zweifel erzählt, daß es sich bei der Krankheit des jungen Mannes tatsächlich um grünen Star handle, dann wäre sie nicht mit dem verzweifelten Gedanken gestorben, ihren Sohn als unheilbar Blinden zurückzulassen.

Erstveröffentlichung 1904 in “Regina”. Keine wesentlichen Varianten.

Eine Stimme
Edvard Munch (1863-1944), Die Stimme, Sommernacht, 1896

Eine Stimme

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Wenige Tage vor ihrem Tod hatte die Marchesa, mehr um ihr Gewissen zu beruhigen als aus einem sonstigen Grund, auch den Doktor Giunio Falci wegen ihres seit einem Jahr erblindeten Sohnes Silvio konsultieren wollen. Sie hatte ihn von den bedeutendsten Augenärzten Italiens und des Auslands untersuchen lassen, und alle hatten diagnostiziert, er leide an unheilbarem grünen Star.

Doktor Giunio Falci war vor kurzem zum Vorstand der Augenklinik berufen worden; aber sei es wegen seiner müden, immer ein wenig geistesabwesenden Erscheinung, sei es wegen seines unvorteilhaften Äußeren oder wegen dieses stets lässigen und schlaksigen Ganges: es gelang ihm einfach nicht, bei irgend jemandem Sympathien oder gar Vertrauen zu erwerben. Er wußte das, ja, es schien, als freue er sich sogar darüber. An die Schüler, an die Patienten, richtete er neugierige, scharfe Fragen, die den Gesprächspartner erstarren ließen und aus der Fassung brachten; und allzu deutlich ließ er erkennen, was für ein Bild er sich vom Leben gemacht hatte: nackt und entblößt von all den geheimen und beinahe notwendigen Heucheleien, von diesen spontanen, unumgänglichen Illusionen, die jeder sich unwillkürlich schafft und aufbaut, aus einem instinktiven Bedürfnis heraus, fast aus einer Art sozialen Schamgefühls. Auf diese Weise wurde seine Gesellschaft auf die Dauer unerträglich.

Auf Bitten der Marchesa hatte er die Augen des jungen Mannes bedächtig und sorgfältig untersucht, ohne – wenigstens nach außen hin – auf all das zu achten, was ihm die Marchesa unterdessen über seine Krankheit, das Urteil der anderen Ärzte und die verschiedenen versuchten Behandlungsmethoden erzählte. Grüner Star? Nein. Es schien ihm nicht so, als wären in diesen Augen die charakteristischen Zeichen dieser Krankheit, der bläuliche oder grünliche Schimmer der undurchsichtigen Stelle, usw. usf., zu erkennen; es schien ihm vielmehr, als hätte er es mit einer seltenen und seltsamen Abart jener Krankheit zu tun, die man üblicherweise Katarakta## oder grauer Star nennt. Aber so im ersten Augenblick hatte er der Mutter nichts von seinem Zweifel erzählen wollen, um nicht in ihr plötzlich eine auch noch so zarte Hoffnung aufkeimen zu lassen. So hatte er das lebhafte Interesse unterdrückt, daß dieser seltsame Fall in ihm ausgelöst hatte, und hatte ihr stattdessen bloß seinen Wunsch mitgeteilt, den Kranken in ein paar Monaten noch einmal zu untersuchen.

Und er war tatsächlich wiedergekommen; aber merkwürdigerweise fand er dabei in dieser neuen, stets ausgestorbenen Straße am Ende der Prati di Castello, in der die Villa der Marchesa Borghi stand, vor dem offenstehenden Gartentor eine Traube von Neugierigen vor: Die Marchesa Borghi war plötzlich in dieser Nacht verstorben.

Was sollte er tun? Umdrehen? Für einen Augenblick dachte er daran, hätte er dieser armen Mutter bei seiner ersten Visite von seinem Zweifel erzählt, daß es sich bei der Krankheit des jungen Mannes tatsächlich um grünen Star handle, dann wäre sie nicht mit dem verzweifelten Gedanken gestorben, ihren Sohn als unheilbar Blinden zurückzulassen. Nun, wenn es ihm schon nicht mehr gegeben war, die Mutter mit dieser Hoffnung zu trösten, konnte er dann nicht wenigstens versuchen, damit dem armen Hinterbliebenen, der so plötzlich einen neuen, schweren Schicksalsschlag erlitten hatte, Trost zu bringen?

Und er hatte die Villa betreten.

Nach einer langen Wartezeit trat in dem dort herrschenden Gewühl eine junge Dame vor ihn hin, schwarz gekleidet, blond, mit steifem, ja strengem Ausdruck: die Gesellschaftsdame der verblichenen Marchesa. Doktor Falci legte ihr den besonderen Grund seines Besuches dar, der ansonsten ja höchst zur Unzeit erfolgt wäre. An einer bestimmten Stelle fragte die junge Dame ihn mit einem Ausdruck leichter Verwunderung, der ihr Mißtrauen verriet: “Ja, tritt denn der graue Star auch bei jungen Menschen auf?”

Falci hatte ihr eine Zeit lang in die Augen gesehen, dann hatte er ihr mit einem ironischen Lächeln, das mehr im Blick als auf den Lippen zu erkennen war, geantwortet: “Und warum nicht? Moralisch immer, Signorina: Dann, wenn sie sich verlieben. Aber auch physisch, leider Gottes.”

Die Signorina hatte sich daraufhin noch mehr versteift und das Gespräch abgebrochen, indem sie sagte, der augenblickliche Zustand des Marchese ließe es nicht zu, ihm von irgend etwas zu sprechen; aber sie würde ihm, sobald er sich ein wenig beruhigt habe, von diesem Besuch erzählen, und er würde ihn dann sicherlich bald zu holen lassen.

Mehr als drei Monate waren vergangen; Doktor Giunio Falci war nicht wieder geholt worden.

Um ehrlich zu sein, bei seinem ersten Besuch hatte der Doktor bei der verstorbenen Marchesa einen sehr schlechten Eindruck hinterlassen. Signorina Lydia Venturi, die nun als Gesellschafterin und Vorleserin des jungen Marchese im Hause geblieben war, erinnerte sich noch sehr gut daran. Aufgrund einer instinktiven Abneigung gegen diesen überaus unsympathischen Doktor kam ihr unterdessen die Frage gar nicht in den Sinn, ob der Eindruck der Marchesa nicht am Ende ein ganz anderer gewesen wäre, wenn Falci ihr Hoffnungen darauf gemacht hätte, die Genesung ihres Sohnes wäre nicht völlig unwahrscheinlich. In ihrer Perspektive erschien der zweite Besuch noch schlimmer und erst recht als der eines Scharlatans: dieses Kommen ausgerechnet an dem Tag, an dem die Marchesa gestorben war, um einen Zweifel zu äußern, eine Hoffnung dieser Art zu entzünden. Umso mehr, als der junge Marchese sich allmählich mit seinem Schicksal abzufinden schien. Als ihm so plötzlich die Mutter gestorben war, da hatte er neben dem Dunkel seiner Blindheit noch ein anderes Dunkel sich auftun gefühlt, mehr in sich drinnen als draußen, ein schreckliches Dunkel, dem gegenüber freilich alle Menschen blind sind. Aber wer gesunde Augen hat, der kann sich von diesem Dunkel mit dem Anblick der Dinge ringsumher ablenken, er jedoch konnte das nicht: blind für das Leben, war er nun auch blind für den Tod. Und in diesem anderen Dunkel, das noch kälter und finsterer war, war nun seine Mutter ver­schwunden, schweigend, und hatte ihn allein zurückgelassen, in einer entsetzlichen Leere.

Ganz plötzlich – er wußte nicht so recht, von wem – war eine Stimme von unendlicher Sanftheit zu ihm gedrungen, wie ein zarter Lichtschimmer. Und an diese Stimme hatte sich seine ganze in dieser entsetzlichen Leere verlorene Seele geklammert.

Nichts anderes als eine Stimme war für ihn Signorina Lydia. Aber dennoch war sie es, die mehr als alle anderen in den letzten Monaten seiner Mutter nahegestanden hatte. Und seine Mutter – er erinnerte sich daran – hatte, wenn sie ihm von ihr erzählte, immer gesagt, daß sie brav sei und aufmerksam, von ausgezeichneten Manieren, gebildet, klug; und genauso empfand er sie nun in den Aufmerksamkeiten, die sie ihm angedeihen ließ, in dem Trost, den sie ihm spendete.

Lydia hatte seit den ersten Tagen den Verdacht gehabt, daß die Marchesa Borghi, als sie sie einstellte, es nicht ungern gesehen hätte, wenn der unglückiche Sohn sich in irgendeiner Form mit ihr getröstet hätte; sie war darüber bitter gekränkt und hatte ihren natürlichen Stolz gezwungen, sich zu einer geradezu strengen Unnahbarkeit zu versteifen. Aber nach dem Unglück, als er da unter verzweifeltem Schluchzen eine ihrer Hände ergriffen hatte, um sein schönes, bleiches Gesicht an sie zu lehnen, wobei er stöhnte: “Verlassen Sie mich nicht!… verlassen Sie mich nicht!”, da fühlte sie, wie sie das Mitleid, die Rührung überwältigten, und sie hatte sich ihm gewidmet, ohne weiter Verdacht zu nähren.

Bald hatte er begonnen, sie mit der schüchternen, aber hartnäckigen und zermürbenden Neugier der Blinden zu quälen. Er wollte sie in seinem Dunkel “sehen”; er wollte, daß ihre Stimme in ihm zum Bild würde.

Zuerst waren es vage, kurze Fragen. Er wollte ihr erzählen, wie er sie sich vorstellte, wenn er sie vorlesen oder sprechen hörte.

“Sie sind blond, nicht wahr?”

“Ja.”

Blond war sie freilich; aber die ein wenig groben, eher schütteren Haare kontrastierten in seltsamer Weise mit der ein bißchen trüben Farbe der Haut. Wie sollte sie ihm das sagen? Und warum?

“Und ihre Augen sind blau?”

“Ja.”

Blau, jawohl; aber düster, traurig, zu tief einge­graben unter der ernsten, traurigen, vorspringenden Stirn. Wie sollte sie ihm das sagen? Und warum?

Schön war sie nicht, was das Gesicht betraf; aber sie hatte eine sehr elegante Figur. Schön, wahrhaft schön, waren ihre Hände und ihre Stimme. Ihre Stimme ganz besonders. Von einer unfaßbaren Sanftheit, die im Gegensatz zu dem düste­ren, stolzen und traurigen Ausdruck des Gesichtes stand.

Sie wußte, wie er, durch den Zauber dieser Stimme und aufgrund der schüchternen Antworten, die er auf seine insistenten Fragen erhielt, sie sah; und sie mühte sich vor dem Spiegel ab, diesem fiktiven Bild ihrer selbst ähnlich zu sehen, sie bemühte sich, sich selbst so zu sehen, wie er in seinem Dunkel sie sah. Und längst kam ihre Stimme für sie selbst nicht mehr aus ihren eigenen Lippen, sondern aus denen, die er sich für sie vorstellte; und wenn sie lachte, hatte sie sofort den Eindruck, nicht selbst gelacht zu haben, sondern viel eher ein Lächeln nachgeahmt zu haben, das nicht ihr gehörte, das Lächeln dieser anderen, die in ihm lebte.

All das verursachte ihr so etwas wie eine taube Qual, es bedrückte sie. Es schien ihr, sie wäre nicht mehr sie, sie würde sich nach und nach selbst aufgeben, durch das Mitleid, das dieser junge Mann in ihr hervorrief. War es nur Mitleid? Nein; es war jetzt auch Liebe. Sie verstand ihre Hand nicht mehr von der seinen zurückzuziehen, ihr Gesicht von seinem abzuheben, wenn er sie zu nahe an sich heranzog.

“Nein! So nicht… so nicht…”

Es galt nun schnell zu einer Entscheidung zu kommen, zu einer Entscheidung, die Signorina Lydia einen langen und harten Kampf mit sich selbst bescherte. Der junge Marchese hatte keine Verwandten, er war sein eigener Herr und konnte also tun und lassen, was ihm gefiel. Aber würden nicht die Leute sagen, sie nütze sein Unglück aus, um geheiratet zu werden, um sich zur reichen Marchesa aufzuschwingen? Na freilich, das und noch vieles andere mehr würden sie sagen. Aber andererseits: wie sollte sie länger in diesem Haus bleiben, wenn nicht um diesen Preis? Und wäre es nicht eine Grausamkeit gewesen, diesen Blinden zu verlassen, ihm nur aus Angst vor der Böswilligkeit der anderen ihre liebevolle Pflege zu entziehen? Sicherlich, es war für sie ein großes Glück; aber sie fühlte ehrlichen Herzens auch, daß sie es sich verdiente, denn sie liebte ihn wirklich; ja, das größte Glück war für sie sogar dieses: ihn offen lieben zu dürfen, sich die Seine nennen zu dürfen, ganz und für immer die Seine, sich ganz und für immer, mit Seele und Körper ihm widmen zu können. Er konnte sich nicht sehen: er sah nichts anderes in sich als sein Unglück; aber dabei war er doch so schön! Und zart war er, wie ein Mädchen; und sie konnte, wenn sie ihn ansah, sich an ihm erfreute, ohne daß er es merkte, denken: “Nun bist du ganz mein, weil du dich nicht siehst und kein Bewußtsein von dir hast; denn deine Seele ist wie gefangen in deinem Unglück und bedarf meiner, um sehen und fühlen zu können.” Aber galt es nicht zuerst, ihm seinen Willen zu tun und ihm zu gestehen, daß sie nicht so war, wie er sie sich vorstellte? Wäre ihr Schweigen nicht Betrug? Jawohl, ein Betrug. Aber er war ja doch blind, und für ihn mochte daher ein Herz wie das ihre, ergeben und glühend, und die Illusion ihrer Schönheit genug sein. Häßlich war sie ja im übrigen auch nicht. Und dann eine Schöne, eine wirklich Schöne, na, wer weiß! Die hätte ihn vielleicht noch ganz anders getäuscht, sein Unglück ausnützend, während er doch eigentlich statt eines schönen Gesichtes, das er doch nie sehen würde können, ein liebendes Herz nötig hatte.

Nach einigen Tagen bangen Ringens wurde die Hochzeit festgesetzt. Sie sollte ohne jeden Pomp stattfinden, und bald, sofort nach Ende der Trauerzeit von einem halben Jahr.

Sie hatte also noch ungefähr anderthalb Monate Zeit, um das Notwendige, so gut es ging, vorzubereiten. Es waren Tage intensiven Glücks: die Stunden flogen nur so dahin zwischen den fröhlichen, hastigen Besorgungen für das Nestchen, das sie sich bauen wollten, und den Liebkosungen, denen sie sich ein wenig trunken entwand, mit zarter Gewalt, um aus dieser Freiheit, die das Zusammenleben ihrer Liebe gewährte, ein Stückchen Seligkeit, das allerstärkste, für den Hochzeitstag aufzubewahren.

Es fehlte noch wenig mehr als eine Woche zum Hochzeitstag, als Lydia plötzlich ein Besuch von Doktor Giunio Falci gemeldet wurde.

In der ersten Regung wollte sie schon sagen: “Ich bin nicht zu Hause!”

Aber der Blinde, der das Flüstern gehört hatte, fragte: “Wer ist da?”

“Doktor Falci”, antwortete der Diener.

“Weißt du”, ergänzte Lydia, “dieser Arzt, den deine arme Mama wenige Tage vor dem Unglück rufen ließ.”

“Ach ja!”, rief Borghi, sich erinnernd. “Er hat mich ja lange untersucht… sehr lange, ich erinnere mich gut, und er sagte, er wolle wiederkommen, um…”

“Warte”, unterbrach ihn Lydia eilig, in höchster Erregung. “Ich werde mit ihm sprechen.”

Doktor Giunio Falci stand mitten im Salon, den dicken, kahlen Kopf zurückgeworfen, die Augen halb geschlossen, und zupfte zerstreut mit einer Hand an seinem stacheligen Kinnbart.

“Nehmen Sie doch Platz, Herr Doktor”, sagte Signorina Lydia, die eingetreten war, ohne daß er es bemerkt hatte.

Falchi zuckte zusammen, verneigte sich und hob an: “Sie werden verzeihen, wenn…”

Aber sie wollte ihm in ihrer Verwirrung und Erregung zuvorkommen: “Wir haben Sie bislang nicht rufen lassen, weil…”

“Auch jener andere Besuch von mir erfolgte vielleicht nicht gerade im richtigen Moment”, sagte Falci, ein leichtes, sarkastisches Lächeln auf den Lippen. “Aber Sie werden mir vergeben, Signorina.”

“Nein… warum denn? Im Gegenteil…” erwiderte Lydia errötend.

“Sie wissen ja nicht”, setzte Falci fort, “was für ein unbändiges Interesse in einem armen Menschen, der sich der Wissenschaft verschrieben hat, gewisse Krankheitsfälle her­vorrufen können… Aber ich will Ihnen die Wahrheit gestehen, Signorina: ich hatte diesen Fall, wenn er auch meiner Meinung nach sehr selten und merkwürdig sein mag, einfach vergessen. Gestern jedoch, als ich mit ein paar Freunden über dies und das plauderte, habe ich von der bevorstehenden Hochzeit des Marchese Borghi mit Ihnen erfahren, Signorina: ist es wahr?”

Lydia erbleichte und bejahte mit einem abweisenden Kopfnicken.

“Erlauben Sie, daß ich meine Glückwünsche zum Ausdruck bringe”, fuhr Falci fort. “Aber sehen Sie, da habe ich mich mit einem Schlag erinnert. Ich habe mich an die Diagnose grüner Star erinnert, die von so vielen meiner hochgeschätzten Herren Kollegen vertreten wurde, wenn ich mich nicht täusche. Eine im Prinzip überaus verständliche Diagnose, glauben Sie mir. Ich bin jedoch sicher, hätte die Frau Marchesa ihren Sohn von diesen Kollegen zu dem Zeitpunkt untersuchen lassen, zu dem ich ihn sah, so hätten auch die leicht erkannt, daß man von einem grünen Star im eigentlichen Sinn hier nicht sprechen kann. Na gut. Ich habe mich auch an meinen zweiten, überaus mißglück­ten Besuch erinnert, und habe gedacht, daß Sie, Signori­na, zuerst in der Auf­regung über den plötzlichen Tod der Mar­chesa, dann in der Freude über dieses neue Ereignis sicher­lich vergessen hatten, nicht wahr?, vergessen hatten…”

“Nein!”, schleuderte ihm Lydia an dieser Stelle entgegen, als wollte sie sich gegen die Qualen wehren, die ihr die lange, giftige Rede des Doktors bereitet hatte.

“Ach, nein?” fragte Falci.

“Nein”, wiederholte sie hartnäckig und fest. “Ich habe mich vielmehr daran erinnert, wie wenig Vertrauen, um nicht zu sagen gar keines, die Marchesa – Sie entschuldigen schon – auch nach Ihrem Besuch in die Heilungsmög­lichkeiten für ihren Sohn setzte.”

“Aber ich habe ja nicht zur Marchesa davon gesprochen”, gab Falci sofort zurück, “daß die Krankheit ihres Sohnes meiner Ansicht nach…”

“Das stimmt, Sie haben zu mir davon gesprochen”, schnitt ihm Lydia erneut das Wort ab. “Aber auch ich, wie die Marchesa, …”

“Auch Sie haben wenig Vertrauen, um nicht zu sagen gar keines?”, unterbrach sie nun Falci seinerseits. “Das macht nichts. Aber haben Sie dem Herrn Marchese demnach also nichts von meinem Besuch und seinem Grund erzählt?”

“Im Augenblick nicht.”

“Und nachher?”

“Auch nicht. Denn…”

Doktor Falci hob eine Hand auf: “Ich verstehe. Wenn einmal die Liebe erwacht ist… Aber Sie, Signorina, entschuldigen Sie bitte: ja, ich weiß, man sagt, die Liebe ist blind; aber wollen Sie sie nun wirklich so blind haben, die Liebe des Herrn Marchese? Auch physisch blind?”

Lydia fühlte, daß gegen die sichere, bissige Kälte dieses Mannes die stolze und abweisende Haltung nicht ausreichte, in der sie sich nach und nach immer mehr versteifte, um ihre Würde gegen einen gemeinen Verdacht zu verteidigen. Sie bemühte sich jedoch, noch ihre Beherrschung zu wahren und fragte mit scheinbarer Ruhe: “Sie beharren also darauf, daß der Marchese mit Ihrer Hilfe das Augenlicht zurückbekommen könnte?”

“Langsam, langsam, Signorina”, antwortete Falci, indem er wiederum die Hand aufhob. “Ich bin nicht allmächtig wie der liebe Herrgott. Ich habe die Augen des Herrn Marchese ein einziges Mal untersucht, und es schien mir, als könnte man mit völliger Sicherheit einen Fall von grünem Star ausschließen. Nun, das, was wie ein Zweifel erscheinen mag oder auch wie eine Hoffnung, das sollte Ihnen doch genügen, meine ich, wenn Ihnen, wie ich annehmen will, tatsächlich das Wohl Ihres Verlobten am Herzen liegt.”

“Und wenn der Zweifel”, erwiderte Lydia schnell in herausforderndem Ton, “nach Ihrer Visite nicht mehr bestehen bliebe, und die Hoffnung enttäuscht würde? Hätten Sie dann nicht grundlos, ja grausam, eine Seele aufgestört, die sich bereits mit ihrem Schicksal abgefunden hatte?

“Nein, Signorina”, entgegnete Falci mit ruhiger und ernster Härte. “Immerhin habe ich es als meine ärztliche Pflicht erachtet, auch ohne Aufforderung zu Ihnen zu kommen. Denn, das sollen Sie wissen, hier glaube ich, es nicht nur mit einem Krankheitsfall, sondern auch mit einem – viel schwerer wiegenden – Gewissensproblem zu tun zu haben.”

“Sie verdächtigen mich also…”, versuchte Lydia ihn zu unterbrechen, aber Falci gab ihr keine Gelegenheit weiterzusprechen.

“Sie selbst”, fuhr er fort, “haben mir eben gesagt, Sie hätten dem Marchese meinen Besuch verschwiegen, und zwar mit einer Entschuldigung, die ich nicht akzeptieren kann, nicht, weil sie mich beleidigen könnte, sondern weil Vertrauen oder Mißtrauen in meine Kunst nicht Ihnen obliegt, sondern dem Marchese. Sehen Sie, Signorina: es mag auch so etwas wie Eigensinn von meiner Seite sein, ich leugne das gar nicht; ja, ich verspreche Ihnen sogar, daß ich von dem Herrn Marchese keine Bezahlung annehmen werde, wenn er zu mir in die Klinik kommt, wo er jede Behandlung und jede Hilfe erhalten wird, die die Wissenschaft zu geben vermag, ohne jegliches materielle Interesse. Ist es nach dieser Erklärung zu viel verlangt, wenn ich Sie bitte, dem Herrn Marchese meinen Besuch anzukündigen?”

Lydia stand auf.

“Warten Sie”, sagte Falci daraufhin, indem er gleichfalls aufstand und seine gewohnte Haltung wieder einnahm. “Ich sage Ihnen, ich werde dem Marchese gegenüber nicht erwähnen, daß ich damals gekommen bin. Ich werde ihm vielmehr sagen, wenn Sie das wollen, daß Sie mich aus Sorge vor der Hochzeit rufen ließen.”

Lydia sah ihm stolz in die Augen.

“Sie werden die Wahrheit sagen. Vielmehr, ich werde sie sagen.”

“Daß Sie mir nicht geglaubt haben?”

“Genau das.”

Falci zuckte die Achseln und lächelte.

“Das könnte Ihnen schaden. Und das möchte ich nicht. Wenn Sie lieber meinen Besuch bis nach der Hochzeit aufschieben wollen, sehen Sie, ich wäre auch durchaus bereit, später wiederzukommen.”

“Nein”, sagte Lydia, mehr mit einer Geste als mit der Stimme, erstickt von dem inneren Aufruhr, mit glühendem Gesicht vor Scham angesichts der scheinbaren Großzügigkeit des Arztes; mit der Hand bedeutete sie ihm einzutreten.

Silvio Borghi wartete schon ungeduldig in seinem Zimmer.

“Hier ist Doktor Falci”, sagte Lydia, als sie steif und verkrampft ins Zimmer trat. “Wir haben da drüben ein Mißverständnis ausgeräumt. Du erinnerst dich doch daran, daß der Doktor bei seinem ersten Besuch gesagt hatte, er wollte wiederkommen, nicht wahr?”

“Ja”, antwortete Borghi. “Ich erinnere mich sehr gut, Herr Doktor!”

“Du weißt noch nicht”, setzte Lydia fort, “daß er tatsächlich wiederkam, und zwar an demselben Morgen, an dem das Unglück mit deiner Mutter geschehen war. Und damals hat er mit mir gesprochen. Er sagte, er sei der Ansicht, deine Krankheit wäre nicht genau diejenige, die von den vielen anderen Ärzten festgestellt worden war; daher wäre deine Heilung seiner Meinung nach nicht ganz unmöglich. Ich habe dir nichts davon gesagt.”

“Weil die Signorina, verstehen Sie”, beeilte sich Doktor Falci anzufügen, “da es sich ja nur um einen Zweifel handelte, den ich in diesem Augenblick und in sehr vager Form ausgesprochen hatte, der Meinung war, es handle sich um eine Art Trost, den ich in dieser Stunde hätte bringen wollen, und der Sache daher keine große Bedeutung beimaß.”

“Das ist es, was ich gesagt habe, nicht das, was Sie denken”, entgegnete Lydia rasch und stolz. “Doktor Falci hat vermutet, was im übrigen wahr ist, nämlich, daß ich dir nichts von seinem zweiten Besuch gesagt hätte; und so ist er von sich aus noch vor der Hochzeit zu uns gekommen, um dir unentgeltlich seine Behandlung anzubieten. Und nun kannst du mit ihm glauben, Silvio, ich wollte dich lieber blind lassen, damit du mich heiratest.”

“Was sagst du da, Lydia?”, fuhr der Blinde auf.

“Aber freilich”, setzte sie schnell hinzu, mit einem seltsamen Lachen. “Und das kann sogar stimmen, denn tatsäch­lich könnte ich nur unter dieser Bedingung die Deine werden…”

“Was sagst du da?”, wiederholte Borghi, ihr ins Wort fallend.

“Du wirst es noch merken, Silvio, wenn es dem Doktor Falci gelingt, dir das Augenlicht zurückzugeben. Ich lasse euch allein.”

“Lydia! Lydia!”, schrie Borghi.

Aber sie war bereits hinausgegangen und hatte die Türe ins Schloß geworfen.

Sie warf sich aufs Bett, biß voller Wut in ein Kissen und brach zunächst in ein unstillbares Schluchzen aus. Als die erste Wut des Weinens vorüber war, überkam sie eine große Bestürzung und so etwas wie Abscheu vor ihrem Gewissen. Es schien ihr, als hätte sie all das, was der Arzt ihr in seiner kalten, beißenden Art an den Kopf geworfen hätte, sich längst schon selbst gesagt, oder besser, als hätte jemand in ihr es gesagt; und sie hatte getan, als höre sie es nicht. Ja, freilich, ständig, in einem fort hatte sie an Doktor Falci gedacht, und immer, wenn sein Bild in ihr aufgestiegen war, wie das Gespenst eines Gewissensbisses, hatte sie es mit einem Schimpfwort verscheucht: “Schar­latan!” Denn – wie hätte sie das jetzt noch leugnen können? – sie wollte, sie wollte wirklich, daß ihr Silvio blind bleiben sollte. Seine Blindheit war die unverzichtbare Voraussetzung seiner Liebe. Denn wenn er morgen das Sehvermögen wiedererlangt hätte, schön wie er war, jung, reich, ein adeliger Herr, weshalb hätte er dann noch sie heiraten sollen? Aus Dankbarkeit? Aus Mitleid? Ach, nur aus diesem Grund! Und also nicht, nein! Selbst wenn er es gewollt hätte: sie nicht! wie hätte sie das annehmen können, sie, die sie ihn liebte und ihn nur um dieser Liebe willen wollte? Sie, die sie in seinem Unglück den Grund seiner Liebe, ja, beinahe die Entschuldigung dafür sah gegenüber der Böswilligkeit der anderen? Kann man also so nachgeben, ohne es zu merken, mit dem eigenen Gewissen Kompromisse schließen, bis man ein Verbrechen begeht? Bis man das eigene Glück auf dem Unglück eines anderen aufbaut? Nein, sie hatte ja wirklich nie daran geglaubt, daß dieser da, ihr Feind, das Wunder vollbringen und ihrem Silvio das Augenlicht zurückgeben könnte; sie glaubte es nicht einmal jetzt; aber warum hatte sie geschwiegen? Wirklich deshalb, weil sie nicht geglaubt hatte, daß man diesem Arzt Vertrauen schenken dürfe? Oder nicht vielleicht doch deshalb, weil der Zweifel, den der Arzt ausgesprochen hatte, und der für Silvio wie ein Hoffnungsschimmer sein würde, für sie dagegen den Tod bedeutet hätte, den Tod seiner Liebe, wenn er zur Gewißheit geworden wäre? Auch jetzt noch konnte sie glauben, daß ihre Liebe genügen würde, um den Blinden für das verlorene Augen­licht zu entschädigen, ja, daß ihm, wenn er nun durch ein Wunder sein Sehvermögen zurückgewänne, weder dieses höchste Glück, noch alle Vergnügungen, die er sich mit seinem Reichtum kaufen könnte, noch die Liebe einer anderen Frau Ersatz für den Verlust ihrer Liebe bieten könnte. Aber das waren Gründe, die für sie selbst zählten, nicht für ihn. Wenn sie nun vor ihn hingetreten wäre, um ihm zu sagen: “Silvio, du mußt wählen zwischen dem Augenlicht und meiner Liebe?” – “Und warum willst du mich denn blind lassen?”, hätte er ihr sicher geantwortet. Ja, weil eben nur so, um den Preis seines Unglücks, ihr Glück möglich war.

Plötzlich sprang sie auf, als hätte sie jemand gerufen. War die Untersuchung dort drüben denn noch immer nicht zu Ende? Was mochte der Arzt wohl sagen? Was würde er denken? Sie verspürte die Versuchung, auf Zehenspitzen zu dieser Tür zu schleichen, die sie selbst geschlossen hatte, und zu lauschen; aber sie hielt sich zurück. Ja, das war’s: sie war draußen vor der Tür geblieben. Sie selbst hatte sie sich zugeschlagen, mit ihren eigenen Händen, auf immer. Aber hätte sie vielleicht die giftigen Angebote dieses Menschen annehmen sollen? Er hatte sich ja sogar dazu verstiegen, ihr vorzuschlagen, man könnte seinen Besuch bis nach der Hochzeit aufschieben. – Wenn sie das angenommen hätte… Nein! Nein! Sie krampfte sich zusammen, vor Abscheu und Ekel. Was für ein infamer Tauschhandel wäre das gewesen! Der häßlichste Betrug, den man sich denken konnte! Und danach? Verachtung, aber keine Liebe mehr…

Sie hörte, wie die Türe aufging; sie zuckte zusammen. Instinktiv lief sie in den Korridor hinaus, durch den Falci kommen mußte.

“Ich habe versucht, das wiedergutzumachen, was Ihre übermäßige Offenheit bewirkt hat, Signorina”, sagte er kalt. “Meine Diagnose hat sich erhärtet. Der Marchese kommt morgen früh zu mir auf die Klinik. Gehen Sie, gehen Sie einstweilen zu ihm, er erwartet Sie. Auf Wiedersehen.”

Wie vernichtet, leer, blieb sie stehen und folgte ihm mit den Augen bis an das Ende des Korridors. Dann hörte sie Silvios Stimme, der nach ihr rief, von dort drinnen. Sie fühlte, wie ein Aufruhr in ihr zu toben begann; sie empfand etwas wie Schwindel; sie fiel beinahe zu Boden; sie schlug die Hände vors Gesicht, um die Tränen zurückzuhalten; dann lief sie zu ihm.

Er erwartete sie sitzend, mit ausgebreiteten Armen; dann drückte er sie an sich, fest, ganz fest, und schrie sein Glück hinaus, daß er für sie allein sein Augenlicht zurückhaben wollte, um sie zu sehen, seine liebe, schöne, süße Braut.

“Du weinst? Warum? Ach, ich weine ja auch, siehst du? Ach, welche Freude! Ich werde dich sehen… ich werde dich sehen! Ich werde sehen!”

Jedes Wort war für sie ein Tod; so sehr, daß er mitten in seiner Freude begriff, daß ihr Weinen nicht so war wie das seine. Da begann er ihr zu sagen, daß er freilich, ach! na freilich, auch er, an einem Tag wie damals den Worten des Arztes nicht geglaubt hätte, und also Schluß damit, kein Wort mehr! Was dachte sie denn noch darüber nach? Heute war ein Festtag! Fort mit all der Betrübnis! Fort mit allen Gedanken, mit einer Ausnahme, dieser: daß sein Glück nun endlich vollständig sein würde, denn er würde seine Braut sehen. Nun hätte sie ein bißchen mehr Muße, mehr Zeit, um das gemeinsame Nestchen zu bauen; und schön sollte es sein, wie ein Traum, dieses Nestchen, das er als erstes Ding auf der Welt sehen würde. Ja, er verspreche es, er würde mit verbundenen Augen aus der Klinik kommen und sie hier zum ersten Mal aufschlagen, in seinem Nestchen.

“Sag doch was! Sprich zu mir! Laß mich doch nicht allein reden!”

“Strengt es dich an?”

“Nein… Frag mich noch einmal: “Strengt es dich an?”, mit dieser deiner Stimme. Laß sie mich küssen, hier, auf deinen Lippen, diese deine Stimme…”

“Ja…”

“Und jetzt sprich; erzähl mir, wie du es mir bauen wirst, unser Nestchen.”

“Wie?”

“Ja, bis jetzt habe ich dich nichts darüber gefragt. Aber nein, ich will nichts darüber wissen, auch jetzt noch nicht. Du sollst alles allein machen. Es wird für mich ein Wunder sein, ein Zauber… aber zuerst werde ich gar nichts sehen: nur dich allein!”

Sie unterdrückte entschlossen das verzweifelte Weinen, ihr Gesicht begann zu strahlen, und dort, vor ihm kniend, er über sie gebeugt, sie umarmend, begann sie, ihm von ihrer Liebe zu sprechen, beinahe ins Ohr flüsternd, mit ihrer Stimme, die mehr denn je süß und zauberhaft klang. Aber als er sie dann trunken an sich zog und drohte, sie nicht mehr loslassen zu wollen, in diesem Augenblick entwand sie sich ihm, richtete sich auf, stolz, wie auf einen Sieg über sich selbst. Ja, sie hätte es in der Hand gehabt, auch jetzt noch, ihn unauflöslich an sich zu binden. Aber nein! Denn sie liebte ihn.

Diesen ganzen Tag lang, bis spät in die Nacht hinein, machte sie ihn mit ihrer Stimme trunken; sie war sicher, denn er war ja noch im Dunkel, dort, und gehörte ihr; im Dunkel, in dem bereits die Hoffnung aufflackerte, schön wie das Bild, das er sich von ihr ausgemalt hatte.

Am nächsten Morgen bestand sie darauf, ihn im Wagen bis zur Klinik zu begleiten, und beim Abschied sagte sie ihm, sie würde nun gleich ans Werk gehen, wie eine eilige Schwalbe.

“Du wirst sehen!”

Sie wartete zwei Tage in schrecklichem Bangen auf den Ausgang der Operation. Als sie erfuhr, daß sie gelungen war, wartete sie noch ein bißchen in dem leeren Haus; sie richtete es liebevoll für ihn her und ließ ihm, der sie überglücklich an seiner Seite haben wollte, sei es auch nur für eine Minute, bestellen, er solle noch ein paar Tage warten; sie käme ihn nicht besuchen, um ihn nicht aufzuregen; der Arzt erlaube es nicht…

“Doch?” Nun gut, dann würde sie kommen…

Sie packte ihre Sachen zusammen, und am Vortag des Tages, an dem er das Krankenhaus verlassen sollte, reiste sie heimlich ab, um wenigstens in seiner Erinnerung eine Stimme zu bleiben, die er nun vielleicht, da er jetzt aus seinem Dunkel herausgetreten war, auf vielen Lippen suchen würde, aber vergebens.

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