Die Vernichtung der Menschen – 1921

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In Italiano – La distruzione dell’uomo (1921)

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Die Vernichtung der Menschen
James Timothy Gleeson (1915 – 2008), We inhabit the corrosive littoral of habit, 1940. Immagine dal Web.

aus dem Italienischen von Michael Rössner

Ich möchte bloß gerne wissen, ob der Herr Untersuchungsrichter** guten Glaubens der Meinung ist, er habe auch nur ein einziges Motiv gefunden, mit dem sich tatsächlich irgendwie das erklären ließe, was er vorsätzlichen Mord nennt (und was, wenn überhaupt, ein Doppelmord gewesen wäre, denn das Opfer war gesegneten Leibes, am Ende des letzten Schwangerschaftsmonats).

Es ist bekannt, daß Nicola Petix sich hinter einem undurchdringlichen Schweigen verschanzt hat, erst gegenüber dem Polizeikommissar gleich nach seiner Verhaftung, später gegenüber ihm, das heißt dem Herrn Untersuchungsrichter, der sich vergeblich so oft und auf jede nur denkbare Weise bemüht hat, ihn zu verhören, und zuletzt gegenüber dem jungen Anwalt, den sie ihm als Pflichtverteidiger zugeteilt haben, da er bis zum Schluß keinen Verteidiger seiner Wahl hatte benennen wollen.

Dieses so hartnäckige Schweigen müßte man, so will mir scheinen, doch auf irgendeine Art und Weise auszulegen versuchen.

Man sagt, Petix lege in der Zelle die erinnerungslose Gleichgültigkeit einer Katze an den Tag, die, nachdem sie einer Maus oder einem Vogel den Garaus gemacht hat, sich behaglich in einem Sonnenstrahl räkelt.

Aber es ist klar, daß dieses Gerede, das darauf hinausläuft, daß Petix seine Tat mit der glücklichen Unschuld eines Tieres begangen hat, bei den Ohren des Herrn Untersuchungsrichters keine Gnade gefunden hat, wenn er vorsätzlichen Mord annehmen und behaupten konnte. Den Tieren ist jeder Vorsatz fremd. Wenn sie ihrer Beute auflauern, ist ihr Überfall instinktiver und natürlicher Bestandteil ihres ebenso natürlichen Jagdverhaltens, das sie weder zu Dieben noch zu Mördern macht. Der Fuchs mag für den Besitzer des Huhns immerhin ein Dieb sein; für sich selbst ist er kein Dieb, er hat bloß Hunger. Und wenn er Hunger hat, schnappt er sich ein Huhn und frißt es. Und wenn er es einmal gefressen hat, dann war’s das, und er denkt nicht mehr daran.

Nun, Petix ist natürlich kein Tier. Und nun muß man erst einmal sehen, ob diese Gleichgültigkeit echt ist. Denn wenn sie echt ist, dann müßte man auch diese Gleichgültigkeit in Betracht ziehen, ebenso wie dieses hartnäckige Schweigen, dessen – so will mir scheinen – natürlichste Konsequenz sie ist; noch dazu, wo beide durch die ausdrückliche Ablehnung eines Verteidigers noch unterstützt werden.

Aber ich will kein Urteil vorwegnehmen und einstweilen mit meiner Meinung noch zurückhalten.

Ich setze also die Diskussion mit dem Herrn Untersuchungsrichter fort.

Wenn der Herr Untersuchungsrichter glaubt, Petix wäre mit aller Strenge des Gesetzes zu bestrafen, weil er für ihn weder ein einem wilden Tier vergleichbarer gewalttätiger Schwachsinniger ist noch ein rasender Irrer, der ohne Grund eine Frau wenige Wochen vor der Geburt umgebracht hat, was kann dann das Motiv des Verbrechens, dieses vorsätzlichen Mordes gewesen sein?

Eine geheime Leidenschaft für diese Frau? Nein. Da würde es genügen, wenn der junge Pflichtverteidiger den Herren Geschworenen einen Augenblick lang ein Bild der armen Toten vorlegte. Frau Porrella war siebenundvierzig Jahre alt und ähnelte leider bereits allem anderen mehr als einer Frau.

Ich erinnere mich, sie wenige Tage vor dem Verbrechen, gegen Ende Oktober, gesehen zu haben. Sie spazierte am Arm ihres fünfzigjährigen Mannes, der noch ein bißchen kleiner war als sie, aber auch einen schönen Bauch vor sich herschleppte, der Herr Porrella, in der Abenddämmerung durch die Viale Nomentano, ohne sich um den Wind zu bekümmern, der mit seinen warmen Böen lärmend die welken Blätter aufwirbelte.

Ich kann es auf mein Ehrenwort bestätigen, daß der Anblick dieser beiden eine Provokation war, wie sie an einem solchen Tag spazieren gingen, mit all diesem Wind, zwischen den Wirbeln all dieser welken Blätter, so klein unter den hohen, nackten Platanen, die ihr spitzes Zweiggeflecht abwehrend in den stürmischen Himmel reckten.

Sie schritten genau auf dieselbe Weise und zur selben Zeit aus, ernst und schwer, als erfüllten sie einen Auftrag.

Vielleicht glaubten sie, daß dieser Spaziergang unbedingt notwendig wäre, nun, da die letzten Tage der Schwangerschaft angebrochen waren. Verschreibung des Arztes; und von allen Freundinnen aus der Umgebung wärmstens empfohlen.

Ja, es mag ärgerlich gewesen sein für sie, aber doch nur zu natürlich, daß diese Windböen alle Augenblicke da und dort aufkamen und wütend alle diese staubtrockenen Blätter aufwirbelten, ohne sie doch je forttragen zu können; und daß diese Platanen dort, da sie doch zur rechten Zeit Blätter ausgetrieben hatten, sich nun auch zur rechten Zeit ihrer entledigten, um wie Tote den kommenden Frühling zu erwarten; und daß dieser räudige Hund dort drüben von jedem neuen Geruch in der Nase dazu verdammt wurde, bei fast allen Stämmen dieser Platanen stehen zu bleiben, verzweifelt eine Hüfte in die Höhe zu recken, um gerade noch ein paar Tröpfchen herauszupressen, nachdem er sich immer und immer wieder wie verrückt im Kreis gedreht hatte, um die richtige Position dafür zu finden.

Ich schwöre, daß nicht nur mir allein, sondern jedem, der an diesem Tag durch die Viale Nomentano ging, unglaublich erschien, daß dieses Männchen da mit so befriedigtem Gesicht seine Frau in diesem Zustand durch die Straßen führen konnte; und noch viel unglaublicher, daß diese Frau sich durch die Straßen führen ließ, mit einer Hartnäckigkeit, die ihr selbst gegenüber umso grausamer erschien, je mehr sie sich in die Notwendigkeit der unerträglichen Anstrengung zu ergeben schien, die das für sie bedeuten mußte. Sie taumelte, keuchte und bekam ganz starre, verkrampfte Augen, nicht einmal so sehr von der unmenschlichen Anstrengung, als von der Angst, sie könnte vielleicht diesen obszönen Ballast im herunterhängenden Bauch nicht bis zum Ende austragen. Tatsächlich ließ sie alle Augenblicke die bläulichen Lider über diesen Augen sinken. Aber sie tat das nicht so sehr aus Scham, als aus Wut darüber, daß sie sich gezwungen sah, diese Scham zu empfinden, vor den Augen derer, die sie betrachteten und sie in diesem Zustand sahen, in ihrem Alter, eine alte Schachtel, die noch einmal verwendet wurde, ausgerechnet für eine so auffälligen Zweck. Sie hätte ja auch wirklich den Mann, den sie beim Arm hielt, mit einem ganz kleinen Druck heimlich aus der tiefinneren Befriedigung herausholen können, der er sich allzu oft und allzu augenfällig hingab, darüber nämlich, daß er es gewesen war, er, wenn auch so winzig klein und kahlköpfig und um die fünfzig Jahre alt, der diesen dicken Schaden da angerichtet hatte. Sie holte ihn nicht aus seiner Befriedigung heraus, denn sie war ja im Gegenteil froh darüber, daß er den Mut hatte, sie zu zeigen, diese Befriedigung, während sie Scham zeigen mußte.

Mir ist, als sähe ich sie noch immer vor mir, wie sie bei einem noch stärkeren Windstoß von hinten auf ihren plumpen, dicken Beinen stehenblieb, an denen das Kleid, sie in obszöner Weise nachzeichnend, klebte, während es sich vorne zu einer Kugel aufblähte. Dann wußte sie nicht, wo sie zuerst mit dem freien Arm hineilen sollte, das heißt, ob sie zuerst diese Kugel von einem Kleid herunterziehen sollte, die ihre ganze Vorderseite zu entblößen drohte, oder ob sie zuerst den alten violetten Samthut an der Krempe festhalten sollte, dessen melancholische schwarze Federn bei diesem Wind eine verzweifelte Sehnsucht nach dem Fliegen befiel.

Aber kommen wir zu den Tatsachen.

Ich bitte Sie (wenn Sie ein wenig Zeit haben), sich diese alte Zinskaserne in der Via Alessandria anzusehen, in der das Ehepaar Porrella wohnte und auch, in zwei Zimmerchen im Erdgeschoß, Nicola Petix.

Es ist eine dieser vielen Zinskasernen, alle auf dieselbe Weise häßlich, wie abgestempelt mit der Marke der gemeinsamen Gewöhnlichkeit der Zeit, in der sie in großer Eile aufgerichtet wurden, in der Erwartung – die sich später als irrig herausstellte – daß es einen überstürzten und übermäßigen Zustrom von Bürgern des Königreichs nach Rom geben würde, sobald diese Stadt zur dritten Hauptstadt des Königreichs proklamiert wurde.

So viele privaten Vermögen, nicht nur von neureichen Spekulanten, auch von uralten Patrizierfamilien, und alle Kreditmittel, die die Banken diesen Bauherrn geliehen hatten, die sich einige Jahre hindurch in einer beinahe fanatischen Baumanie zu befinden schienen, gingen damals in einem riesigen Bankrott verloren, an den sich die Leute heute noch erinnern.

Und man sah dort, wo die alten Patrizierparks und herrliche Villen waren, und auch jenseits des Flusses, an Stelle von Wiesen und Gärten, Häuser, Häuser und wiederum Häuser in die Höhe schießen, ganze Häuserblocks in kaum trassierten Straßen abgelegener Viertel; und so viele davon sah man plötzlich stecken bleiben – moderne Ruinen -, als sie gerade bis zum vierten Stockwerk gekommen waren, durchnäßt, da ihnen das Dach fehlte, mit all diesen nackten Fensterhöhlen und, in den Löchern an der Spitze rohen Mauer, da und dort noch dem Rest eines verlassenen Gerüstes, vom Regen geschwärzt und vermodert; andere Häuserblocks, schon fertiggebaut, blieben leer stehen an ganzen Straßenzügen in den neuen Vierteln, durch die nie jemand kam; und man sah das Gras in der monatelangen Stille an den Rändern der Gehsteige wieder herausgucken, ganz dicht an den Mauern, und schließlich, zart und in jedem Windhauch erschauernd, die ganze Straßenfläche zurückerobern.

Viele dieser Häuser, die ursprünglich für wohlhabende Mieter erbaut worden waren, wurden dann, um wenigstens irgend einen Nutzen aus ihnen zu ziehen, der Invasion des einfachen Volkes geöffnet. Diese Invasion richtete die Häuser ziemlich zugrunde, wie man sich leicht vorstellen kann. Als dann schließlich im Laufe der Jahre in Rom wirklich die Wohnungsnot ausbrach, die man zunächst zu früh befürchtet und dann zu spät bekämpft hatte, weil alle aufgrund dieses riesigen Schadens Angst davor hatten, Neubauten in Angriff zu nehmen, da begannen die neuen Eigentümer, die diese Häuser um einen Pappenstiel von den Kreditgebern der insolventen Bauherrn erworben hatte, schnell nachzurechnen, wieviel sie nun hätten ausgeben müssen, um diese Häuser in einen Zustand zu versetzen, der es ermöglicht hätte, Mieter aufzunehmen, die eine höhere Miete zu zahlen bereit wären. Und das Ergebnis war, daß sie es für klüger befanden, nichts zu tun, und die Stiegen und Treppenstufen weiter zerfallen zu lassen, die Mauern voll obszöner Schmierereien, die Fenster mit herunterhängenden Jalousien und die zerbrochenen Scheiben beflaggt mit den schmutzigen, geflickten Fetzen, die dort zum Trocknen aufgehängt waren.

Nur daß jetzt in einigen dieser großen, elenden Häuser unter vielen Mietern, die zurückgeblieben sind, um das Zerstörungswerk ihrer Vorgänger auf Wänden, Türen und Fußböden fortzusetzen, nun auch die eine oder andere verarmte Familie aus dem Adel oder dem Mittelstand, von Angestellten oder Lehrern, Unterschlupf zu suchen begonnen hat, sei es, daß sie anderswo keine Wohnung finden konnte, oder aus Not, oder aus Sparsamkeit. Nun muß sie den Ekel vor diesem ganzen Schmutz überwinden und noch mehr vor der Vermischung mit dem, was, ja, mein Gott, natürlich auch mein Nächster ist, das würde ja sicher niemand leugnen, aber das man doch sicherlich gerne nicht allzu nahe hat, wenn man auch nur ein bißchen Freund der Sauberkeit und der Wohlerzogenheit ist. Im übrigen kann man nicht sagen, daß diese Abneigung nicht erwidert würde; jedenfalls wurden die Neuankömmlinge zu Beginn sehr scheel angesehen und dann mußten sie sich nach und nach, wenn sie zu einem besseren Verhältnis mit den Leuten im Haus gelangen wollten, mit gewissen Vertraulichkeiten abfinden, die sie nicht so sehr gewährten, als sie sich vielmehr die anderen herausnahmen.

Nun, in dieser Zinskaserne dort in der Via Alessandria wohnten die Eheleute Porrella zum Zeitpunkt des Verbrechens seit ungefähr fünfzehn Jahren, Nicola Petix, seit etwa zehn. Aber während die Porrellas seit einer guten Weile das Wohlwollen aller alteingesessenen Mieter für sich erobert hatten, hatte Petix vielmehr stets die allgemeine Antipathie auf sich gezogen, weil er alle, angefangen von dem verdreckten Hausmeister, mit Verachtung ansah, ohne jemals irgendjemanden eines Grußes, ja nicht einmal eines leichten Kopfnickens zu würdigen.

Ja, ich habe gesagt, kommen wir zu den Tatsachen. Aber mit den Tatsachen ist das wie mit einem Sack: wenn er leer ist, fällt er um.

Das wird der Herr Untersuchungsrichter noch merken, wenn er – wie es den Anschein hat – versuchen will, ihn so einfach aufrecht stehen zu lassen, ohne erst alle die Motive hineinzupacken, von denen er mit Sicherheit bestimmt worden ist, und von denen der Untersuchungsrichter nicht einmal die leiseste Ahnung hat. [1]

Petix’ Vater war ein vor vielen Jahren nach Amerika ausgewanderter und dort verstorbener Ingenieur gewesen, der das ganze Vermögen, daß er dort im Lauf der Jahre in seinem Beruf erworben hatte, als Erbe einem anderen Sohn hinterließ, der gleichfalls Ingenieur und zwei Jahre älter war als Petix, und zwar mit der Bedingung, dem jüngeren Bruder auf Lebenszeit einen Scheck über ein paar armselige Hundert Lire zukommen zu lassen, sozusagen als Almosen, und nicht, weil es ihm zugestanden hätte, denn er hatte, wie es im Testament hieß, “den ganzen ihm zustehenden Pflichtteil bereits in einem schandbaren Müßiggang aufgezehrt”.

Diesen Müßiggang Petix’ gilt es freilich nicht nur von der Seite des Vaters zu betrachten, sondern ein wenig auch von der seinen, denn Petix frequentierte tatsächlich Jahre hindurch die Hörsäle der Universitäten, wechselte von einer Studienrichtung zur anderen, von der Medizin zu den Rechtswissenschaften, von den Rechtswissenschaften zur Mathematik, von dieser zur Literatur und zur Philosophie. Dabei legte er, das ist schon wahr, niemals eine Prüfung ab, weil er sich nie vorstellen konnte, Arzt zu werden oder Anwalt, Mathematiker oder Literat oder Philosoph. In Wahrheit wollte Petix nie irgendetwas werden oder tun, aber das heißt nicht, daß er Müßiggang getrieben hätte und daß dieser Müßiggang schandbar gewesen wäre. Er hat stets über die Wechselfälle des Lebens und die Gebräuche der Menschen nachgedacht und so auf seine eigene Weise Studien betrieben.

Die Frucht dieses ständigen Nachdenkens war ein unendlicher Überdruß, ein unerträglicher Überdruß gegenüber dem Leben und gegenüber den Menschen.

Etwas tun, nur um es zu tun? Man müßte in diesem etwas drinnen sein, was getan werden soll, wie ein Blinder, ohne es von außen zu sehen; oder, wenn schon das nicht, dann ihm ein Ziel zuschreiben. Nur das Ziel, es zu tun, als Selbstzweck? Aber ja, mein Gott, wie das eben so geht. Heute dieses, morgen etwas anderes. Oder auch jeden Tag dasselbe. Je nach den Neigungen, den Fähigkeiten, den Absichten, den Gefühlen oder den Trieben. Wie das eben so geht.

Das Schlimme kommt nur dann, wenn man diesen Neigungen, Fähigkeiten und Absichten, diesen Gefühlen und Trieben, die man von innen verfolgt, weil man sie hat und empfindet, einen außerhalb ihrer selbst liegenden Zweck zuschreiben will, den man eben deshalb, weil man ihn draußen sucht, nicht mehr findet, so wie man dann überhaupt nichts mehr findet.

Nicola Petix war bald bei diesem Nichts angelangt, das wohl die Quintessenz jeder Philosophie sein muß.

Der tägliche Anblick der hundert und mehr Mieter dieser düsteren und schmutzigen Mietskaserne, Leute, die lebten, um zu leben, ohne zu wissen, daß sie lebten, es sei denn um dieses bißchen willen, das sie jeden Tag verdammt schienen zu tun, immer dieselben Dinge; dieses Anblicks wurde er bald überdrüssig, er wurde ihm geradezu wahnhaft unerträglich, und er steigerte sich darüber von Tag zu Tag in eine immer größere Verzweiflung hinein.

Vor allem waren ihm der Anblick und der Lärm der vielen kleinen Kinder unerträglich, die im Hof und auf den Stiegen rumorten. Er brauchte sich nur ans Fenster stellen, das auf den Hof hinausging: sofort sah er vier oder fünf in einer Reihe ihr Geschäft verrichten, während sie an einem faulen Apfel oder an einem Stück Brot kauten; oder auf dem löchrigen Pflaster, auf dem Tümpel fauligen Wassers standen (wenn es Wasser war), drei Jungen auf allen Vieren, die heimlich zusahen, wie ein dreijähriges Mädchen Pipi machte, das davon nichts bemerkte, während es ernst, unschuldig und mit einem verbundenen Auge sein Geschäftchen verrichtete. Und wie sie einander anspuckten, die Fußtritte und Kratzer, die sie austeilten, wie sie einander an den Haaren zogen, und die Schreie, die darauf folgten, und an denen sich auch alle Mammas aus sämtlichen Fenstern der fünf Stockwerke beteiligten; während.. bitte, da geht eben das Fräulein Lehrerin mit dem käsigen Gesicht und den herabhängenden Haaren mit einem dicken Blumenstrauß über den Hof, den ihr der an ihrer Seite lächelnde Verlobte geschenkt hat. Petix überkam die Versuchung, zur Schublade der Kommode zu laufen, um dieser Lehrerin eine Kugel aus dem Revolver nachzu­schicken, so groß war seine Wut und seine Entrüstung über diese Blumen und dieses Lächeln des Verlobten, über das schmeichlerische Getändel der Liebe inmitten dieser Übelkeit erregenden Obszönität all dieser schmutzigen Brut, die binnen kurzem von der Lehrerin herangezogen werden würde.

Nun müssen Sie nur einmal bedenken, daß Nicola Petix seit zehn Jahren jeden Tag in diesem Mietshaus die periodi­schen, nie ausbleibenden Schwangerschaften der Frau Porrella miterlebte, die, wenn sie unter Übelkeitsanfällen, Zittern und Leiden das siebente oder achte Monat erreicht hatte, jedesmal unter Todesgefahr eine Fehlgeburt hatte. In neun­zehn Jahren Ehe hatte es dieser Kasten von einer Frau be­reits auf fünfzehn Fehlgeburten gebracht.

Und das erschreckendste für Nicola Petix war dies: daß er bei diesen beiden keinen Grund dafür erkennen konnte, daß sie in so blindem Starrsinn unbedingt ein Kind wollten. [2]

Vielleicht deshalb, weil vor achtzehn Jahren, in der Zeit der ersten Schwangerschaft, die Frau die ganze Babyaus­stattung vorbereitet hatte: Windeln, Häubchen, Hemdchen, Lätzchen, mit Schleifen geschmückte lange Kleidchen, Woll­söckchen, die noch immer auf ihre Verwendung warteten und nun schon vergilbt und vor Wäschestärke steif geworden waren wie kleine Leichen.

Seit zehn Jahren nun schon hatte sich zwischen all diesen Frauen des Mietshauses, die auf Kinder in die Welt setzten, so viel sie nur konnten, und Nicola Petix, der ihre schmutzige Brut haßte, so sehr er nur konnte, so etwas wie eine Wette herausgebildet: die Frauen behaupteten, dieses Mal würde die Frau Porrella ihr Kind bekommen, und er sagte nein, auch dieses Mal nicht. Und je besorgter sie den von Monat zu Monat wachsenden Bauch der Frau mit unzähligen Aufmerksamkeiten, Ratschlägen und Hilfen behüteten, umso mehr fühlte er, während er diesem Wachstum von Monat zu Monat zusah, in sich Ärger, Erregung, ja Wut wachsen. In den letzten Tagen jeder Schwangerschaft stellte sich seiner überreizten Phantasie das ganze Mietshaus wie ein riesiger Bauch dar, der verzweifelt von Schwangerschaft des Menschen, der da geboren werden sollte, erschüttert wurde. Es handelte sich längst nicht mehr um die bevorstehende Geburt des Kindes der Frau Porrella, die für ihn eine Niederlage darstellen sollte; es handelte sich um den Menschen, den Menschen schlechthin, der nach dem Wunsch all dieser Frauen aus dem Bauch dieser Frau geboren werden sollte; des Men­schen, wie er aus dem dumpfen Trieb der beiden Geschlechter entstehen kann, die miteinander kopulieren.

Nun, der Mensch war es, den Petix vernichten wollte, als er sicher war, daß diese sechzehnte Schwangerschaft endlich zum Ziel führen würde. Den Menschen. Nicht einen von vielen, sondern alle in diesem einen; um an diesem einen sich für die vielen zu rächen, die er dort sah, kleine Tiere, die lebten, um zu leben, ohne zu wissen, daß sie lebten, es sei denn um dieses bißchen willen, das sie jeden Tag verdammt schienen zu tun, immer dieselben Dinge.

Und es geschah wenige Tage, nachdem ich das Ehepaar Porrella in der Viale Nomentano zwischen den Spiralen welker Blätter die Füße im selben Rhythmus, ernst und gemessen einen vor den anderen setzen gesehen hatte, als erfüllten sie eine Aufgabe.

Das Ziel des täglichen Spaziergangs war ein Steinmäuer­chen hinter der Zollbarriere, wo die Straße, nachdem sie nach Sant’Agnese noch einmal eine Kehre gemacht und sich ein wenig verengt hat, zum Tal des Aniene abfällt. Jeden Tag ruhten sie sich auf diesem Steinmäuerchen sitzend ein halbes Stündchen von dem langen, langsamen Spaziergang aus. Herr Porrella sah dabei die düstere Brücke an und dachte sicher daran, daß über sie schon die alten Römer geschritten waren. Frau Porrella verfolgte mit den Augen die alte Salatsamm­lerin zwischen den Gräsern der Böschung entlang des Flusses, dessen Lauf noch ein Stück nach der Brücke da unten einge­sehen werden kann; oder sie blickte auf ihre Hände und drehte ganz langsam an den Ringen, die an ihren plumpen Wurstfingern steckten.

Auch an jenem Tag wollten sie ans Ziel gelangen, wenngleich der Fluß durch die ausgiebigen Regenfälle der letzten Zeit Hochwasser führte und drohend auf die Böschung hinaufschlug, fast bis zu ihrem Steinmäuerchen hinauf; und obwohl sie auf diesem sitzend, als hätte er auf sie gewartet, ihren Nachbarn Nicola Petix vorfanden: ganz in sich zusammenge­sunken auf dem Stein kauernd wie eine riesige Eule.

Sie blieben stehen, als sie ihn sahen, für einen Augen­blick ärgerlich und unschlüssig, ob sie sich anderswo hinsetzen oder lieber umkehren sollten. Aber gerade diese Erkenntnis des eigenen Ärgers und Mißtrauens trieb sie schließlich dazu, sich zu ihm zu setzen, denn es erschien ihnen unvernünftig zu glauben, das die unangenehme Gegenwart dieses Mannes und seine offenkundige Absicht, um ihretwillen hierhergekommen zu sein, irgendetwas so Ernstes darstellen konnten, daß man deshalb auf die gewohnte Rast hätte ver­zichten müssen, derer vor allem die Schwangere so sehr bedurfte.

Petix sagte nichts. Alles geschah in einem Augenblick, fast lautlos. Als die Frau zu der Mauer trat, um sich hinzusetzen, packte er sie bei einem Arm und zog sie mit einem Ruck bis zum Rand des hochwasserführenden Flusses; dort gab er ihr einen Stoß und warf sie in die Fluten.


* – Erstveröffentlichung in Novella, Weihnachtsnummer 1921.

** – Die Rede ist vom Delikt des Herrn Petix. (Anm. des Autors)

[1]– In der erwähnten Erstveröffentlichung von 1921 folgt an dieser Stelle ein später gestrichener, jedoch interessanter Absatz:

“Im übrigen ist das leicht vorherzusehen. So wie er nur die Tatsache sehen wird, nichts als eine Tatsache, leer und aufgeblasen von ein bißchen rhetorischem Wind, damit sie irgendwie und um jeden Preis aufrecht steht, so werden die Herren Geschworenen bloß den Körper sehen, den Körper eines Menschen dort im Käfig, so wie Petix sich ihren Blicken darbieten wird, diesen langen, hageren, schief gewachsenen Körper und diesen Kopf eines ausgestopften Vogels mit den fliehenden, stechenden Augen.
Und niemand wird es in den Sinn kommen, daß Petix diesen seinen Körper, als er die Tat beging, gar nicht sehen, daß er gar nicht an ihn denken konnte; und daß diese Tatsache, die er schuf, während er in dem Motivzusammenhang stand, der ihn die Tat begehen ließ, für ihn nicht die war, die sie nun für alle und vielleicht auch für ihn selbst ist, etwas draußen, weit weg, irgendeine von außen betrachtete Geschichte, sondern vielmehr das Motiv selbst, das in ihm arbeitete, und das man ergründen müßte, damit die Tatsache ihren wahren Sinn und ihren wahren Wert bekäme.
Einen metaphysischen Sinn, meine Herrschaften, und einen universellen Wert.”

2) In der angegebenen Erstveröffentlichung folgt ein interessanter Einschub:

“ob der Grund dafür nicht darin lag, daß unter der stets prallen Kugel der Röcke der einen ein anderes Geschlecht verborgen war als das, das um viel geringerer Ursache willen die Hosen des anderen ausbeulte. Petix dachte, daß diese Frau, die doch breitschultrig und viel größer als der Mann war, ein gewisses Ressentiment für ihren eigenen Körper haben mußte, der ihr dieses Geschlecht zugeteilt hatte, daß sie zwang, sich diesem Männlein zu unterwerfen, der nichts getan hatte, um sich die Dreistigkeit zu verdienen, mit der er seine Beinchen in den von ihr genähten Röhrenhosen durch die Welt trug. Und wer weiß, vielleicht hatte ihr Frauenkörper einmal dieses Ressentiment gegen sich selbst empfunden. Aber nun, da sie einmal als Frau geboren war, mußte sich ihr neben den eines Mannes gelegter Körper einmal allen Notwendigkeiten fügen, so grausam sie auch sein mochten, und sie, so schwer und durch die lange Gewohnheit grau und erinnerungslos geworden, zeigte die apathischeste Gleichgültigkeit dafür. Er war durch Zufall als Mann ge­boren und sie als Frau, obwohl sie von einer Frau nichts mehr an sich hatte als dieses eine; die Natur woll­te es so, und so mußte es geschehen. Auf dem Hinter­grund dieser apathischen Gleichgültigkeit für ihre sexuelle Unterwerfung erschienen schamlos und wild die Zeichen von Erbitterung und Herausforderung, wenn sie dem Höhe­punkt der Schwangerschaft nahe war, vielleicht deshalb, weil der frühere Stolz, den ihr größerer und festerer Körper gegenüber dem des kleinen Mannes empfunden haben mochte, zu viele Niederlagen erlitten hatte. Nun wollte sie, solange ihre Kräfte reichten, und sei es auch um den Preis ihres Lebens, beweisen, daß, wenn dieses Männ­chen es noch schaffte, sie zu schwängern, auch sie, dieser unförmige, verfallende Körper, es wenigstens einmal schaffen würde, eine Schwangerschaft auszutragen.

© Michael Rössner.

In Italiano – La distruzione dell’uomo (1921)

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