In Italiano – I pensionati della memoria (1914)
Erstveröffentlichung Januar 1914 in der Zeitschrift “Aprutium”. Keine wesentlichen Varianten bekannt.
aus dem Italienischen von Michael Rössner
Die Pensionäre der Erinnerung
Na, ihr habt es gut getroffen! Die Toten zum Friedhof begleiten und dann nach Hause zurückkehren, vielleicht mit einer großen Trauer im Herzen und einem Gefühl der inneren Leere, wenn euch der Tote sehr teuer war; und wenn nicht, dann wenigstens mit der Befriedigung, eine unangenehme Pflicht erledigt zu haben, und dem Wunsch, durch das erneute Eintauchen in die kleinen Sorgen und den Trott des Lebens die Betroffenheit und Beklemmung zu vertreiben, die der Gedanke und das Schauspiel des Todes den Menschen stets einflößen. Alle jedenfalls mit einem gewissen Gefühl der Erleichterung, denn auch für die nächsten Anverwandten ist der Tote – seien wir doch ehrlich – mit seiner eisigen unbeweglichen Starrheit, die sich ungerührt allen Sorgen entgegenstellt, die wir uns um ihn machen, all dem Weinen, das wir um ihn herum veranstalten, eine schreckliche Last, von der sich selbst die Totenklage – so sehr sie auch Miene macht und Anstrengungen unternimmt, sich mit ihm in verzweifelter Weise noch einmal zu beschweren – im tiefsten Grunde eigentlich zu befreien sucht.
Und auch ihr befreit euch von ihm, wenigstens von dieser schrecklichen physischen Last, indem ihr auf den Friedhof wandert, um eure Toten dortzulassen. Es mag eine Qual sein, ein großer Kummer; aber dann seht ihr den Begräbniszug auseinanderlaufen, den Sarg in das Grab hineinsinken; das wär’s, Adieu. Erledigt.
Na, habt ihr’s so schlecht getroffen?
Zu mir kommen nämlich alle Toten, die ich auf den Friedhof begleite, zurück.
Dort im Sarg, da spielen sie noch schön die Toten. Vielleicht sind sie ja auch wirklich tot, für sich selbst, versteht sich. Aber für mich nicht, bitte glaubt mir das! Wenn für euch alles erledigt ist, dann ist für mich gar nichts erledigt. Denn mit mir gehen sie alle wieder zurück, zu mir nach Hause. Ich habe das ganze Haus voll von ihnen. Von Toten, meint ihr? Was heißt da Tote! Lebendig sind sie, alle miteinander lebendig, so wie ich, so wie ihr; lebendiger als zuvor.
Allerdings – das muß man zugeben – allerdings haben sie ihre Illusionen verloren.
Denn – denkt einmal nach: Was kann denn von ihnen gestorben sein? Die Wirklichkeit, die sie – und nicht immer in derselben Weise – sich selbst und dem Leben gegeben haben. Na, eine sehr relative Wirklichkeit, das könnt ihr mir glauben. Eure war sie nicht. Meine auch nicht. Ihr und ich, wir sehen, fühlen und denken uns selbst und das Leben tatsächlich ja jeder auf unsere Weise. Das heißt, wir geben uns selbst und dem Leben jeder auf unsere Weise eine Wirklichkeit: Wir projizieren sie nach außen und glauben, so wie sie die unsere ist, müßte sie auch die aller anderen sein. Und so leben wir dann fröhlich in ihrer Mitte und gehen in ihr mit der größten Sicherheit spazieren, den Stock in der Hand, die Zigarre im Mund.
Ach, meine Herrschaften, verlaßt euch bloß nicht zu sehr darauf! Ein leiser Hauch schon genügt, um sie fortzublasen, diese eure Wirklichkeit. Sehr ihr denn nicht, daß sie sich im Inneren ständig wandelt? Sie wandelt sich, kaum, daß ihr auch nur ein kleines bißchen anders zu sehen, zu fühlen, zu denken beginnt als eben vorhin noch; so daß ihr jetzt zu der Erkenntnis gelangt, daß das, was ihr eben vorhin noch für die Wirklichkeit angesehen habt, doch nur eine Illusion war. Aber zum Teufel, gibt es denn überhaupt eine andere Wirklichkeit als diese Illusion? Und was anderes ist denn dann der Tod wenn nicht der Verlust jeglicher Illusion?
Aber das ist es eben. Mögen die Toten immerhin lauter arme Kerle sein und alle Illusionen verloren haben, die sie sich von sich selbst und vom Leben machten; was die Illusion anbelangt, die ich mir noch immer von ihnen mache, da können sie sich damit trösten, daß sie weiterleben, solange ich lebe. Und das nützen die aus! Ich schwöre euch, die nützen das schamlos aus.
Sehr einmal her: Ich habe da vor mehr als zwanzig Jahren in Bonn am Rhein einen gewissen Herrn Herbst kennengelernt. Mit dem Herbst hatte er außer seinem Namen nichts gemeinsam; er war auch im Winter, im Frühjahr und im Sommer Hutmacher und besaß einen kleinen Laden an einer Ecke des Marktplatzes in der Nähe der Beethovenhalle.
Ich sehe diese Ecke vor mir, als wäre ich jetzt noch dort, es ist Abend; ich atme die vermischten Gerüche ein, die aus den hellerleuchteten Läden strömen, fettige Gerüche; und ich sehe die erleuchteten Lampen auch vor dem Schaufenster des Herrn Herbst, der mit gespreizten Beinen, die Hände in den Hosentaschen, auf der Schwelle seines Ladens steht. Er sieht mich vorübergehen, nickt mir zu und wünscht mir in dem eigentümlichen Singsang des rheinischen Dialekts eine “Gute Nacht, Herr Doktor”.
Nun sind mehr als zwanzig Jahre vergangen. Zumindest achtundfünfzig war er damals wohl, der Herr Herbst. Nun, jetzt wird er vielleicht schon tot sein. Aber tot für sich selbst, nicht für mich, glaubt mir das bitte. Und es ist vergeblich, ganz und gar vergeblich, wenn Sie mir erzählen, Sie wären neulich in Bonn am Rhein gewesen und hätten an der Ecke des Marktplatzes in der Nähe der Beethovenhalle keine Spur gefunden, weder von Herrn Herbst noch von seinem Hutladen. Was haben Sie stattdessen gefunden? Eine andere Wirklichkeit, nicht wahr? Und die halten Sie für wahrer als die, die ich dort vor zwanzig Jahren verlassen habe? Aber lieber Herr, fahren Sie doch in zwanzig Jahren noch einmal hin, und Sie werden sehen, was aus der Wirklichkeit geworden ist, die Sie jetzt dort zurückgelassen haben.
Was für eine Wirklichkeit denn? Ja, glaubt ihr denn im Ernst, meine von vor zwanzig Jahren, mit dem Herrn Herbst auf der Schwelle seines Ladens, mit gespreizten Beinen und den Händen in der Hosentasche, wäre dieselbe gewesen, die sich der Betroffene von sich selbst, seinem Laden und dem Marktplatz machte, der Herr Herbst in Person? Wer weiß denn, wie der Herr Herbst sich selbst, seinen Laden und diesen Platz gesehen haben mag!
Nein, nein, meine Herrschaften: Das war meine Wirklichkeit, ganz allein meine, und die kann sich nicht verändern und nicht untergehen, solange ich lebe, ja sie kann sogar ewig leben, wenn ich genug Kraft habe, sie auf einer Seite zu verewigen – naja, ewig, oder wenigstens noch hundert Millionen Jahre länger, wenn man die Berechnungen zugrundelegt, die eben jetzt in Amerika über die voraussichtliche Dauer des menschlichen Lebens auf der Erde angestellt werden.
Nun, so wie es mir mit dem so weit entfernten Herr Herbst geht, falls er jetzt tot ist, so geht es mir auch mit den vielen Toten, die ich auf den Friedhof begleite, und die ihrerseits noch viel weiter fortgehen, wer weiß wohin. Ihre Wirklichkeit ist vergangen; aber welche? Die, die sich selbst gegeben haben. Aber was konnte ich denn je davon wissen, von diesen ihren Wirklichkeiten? Was wißt denn ihr davon? Ich kenne nur die Wirklichkeit, die ich ihnen meinerseits gegeben habe. Illusion ist die meine ebenso wie die ihre.
Aber wenn sie, die armen Toten, sich so vollständig von jeder Illusion ihrer Wirklichkeit befreit haben, so lebt doch meine Illusion noch weiter, und sie ist so stark, daß ich sie – ich sage es noch einmal – nachdem ich sie eben erst zum Friedhof begleitet habe, wieder zurückgehen sehe: einen wie den anderen, genauso wie sie waren: sachte, sachte, heraus aus dem Sarg, und an meine Seite.
“Aber warum”, fragt ihr, “warum kehren sie nicht in ihre eigenen Häuser zurück, anstatt in Ihr Haus zu gehen?
Schöne Frage! Na, weil sie ja keine Wirklichkeit mehr für sich haben, so daß sie dorthin gehen könnten, wo es ihnen paßt. Die Wirklichkeit ist nie aus sich selbst heraus da. Sie haben sie nun nur mehr durch mich, ihre Wirklichkeit, und deshalb müssen sie zwangsläufig auch mit mir gehen.
Arme Pensionäre der Erinnerung, ihr Illusionsverlust rührt mich ganz unsäglich.
Ganz zu Beginn, das heißt nach dem Ende des letzten Schauspiels (ich meine nach dem Trauerzug), wenn sie da aus dem Sarg steigen, um mit mir zu Fuß vom Friedhof zurückzugehen, da haben sie so eine gewisse ausgelassene, leicht verächtliche Lebhaftigkeit an sich wie einer, der – auf wenig ehrenhafte Weise freilich und um den Preis, dafür alles zu verlieren – eine zentnerschwere Bürde losgeworden ist. Und wenn sie jetzt auch so armselig wie nur möglich dastehen, wollen sie erst einmal aufatmen. Na freilich! Wenigstens einen tiefen Atemzug der Erleichterung, das muß doch erlaubt sein! So viele Stunden waren sie dort, steif, unbeweglich, auf ein Bett gefesselt, und haben Tote gespielt. Jetzt würden sie am liebsten ihre Glieder strecken, sie drehen den Hals hierhin und dorthin, ziehen bald diese, bald jene Schulter hoch, recken, verdrehen, schlenkern die Arme, wollen die Beine kräftig ausschreiten lassen und sind mir bald ein paar Schritte voraus. Aber allzu weit entfernen können sie sich nicht. Sie wissen ja nur zu gut, daß sie an mich gebunden sind, daß sie nun ihre einzige Wirklichkeit – oder Illusion des Lebens, was auf dasselbe herauskommt – in mir haben.
Andere – Verwandte, der eine oder andere Freund – beweinen sie, vermissen sie, erinnern sich an den einen oder anderen Charakterzug von ihnen, leiden unter ihrem Verlust; aber dieses Weinen, dieses Vermissen, diese Erinnerung, dieses Leiden, richten sich an eine vergangene Wirklichkeit, die diese Leute für mit dem Toten verflogen halten, weil sie nie über den Wert dieser Wirklcihkeit nachgedacht haben.
Für sie liegt alles daran, ob ein Körper da ist oder nicht.
Es würde ausreichen, sie zu trösten, wenn sie glauben könnten, daß dieser Körper nicht mehr da ist, nicht deshalb, weil er schon unter der Erde liegt, sondern weil er verreist ist, und irgendwann, weiß Gott wann, zurückkehren wird.
Jaja, laßt nur ruhig alles, wie es ist: Das Zimmer für seine Rückkehr bereit, das Bett frisch gemacht, die Decke ein wenig zurückgeschlagen, das Nachthemd ausgebreitet. Auf der Nachttischkommode die Kerze und die Schachtel Streichhölzer; die Pantoffeln vor dem Lehnstuhl am Fußende des Bettes.
“Fortgefahren ist er. Er kommt zurück.”
Das würde genügen. Ihr wäret getröstet. Warum? Weil ihr diesem Körper eine Wirklichkeit für sich gebt, während er für sich nun einmal keine hat. Deshalb löst er sich ja auch auf, verschwindet, wenn er einmal tot ist.
“Da haben wir’s”, ruft ihr nun aus. “Tot! Du sagst, wenn er tot ist, löst er sich auf; aber als er am Leben war? Da hatte er doch eine Wirklichkeit!”
Aber meine Lieben, wollen wir wirklich von vorne anfangen? Natürlich hatte er eine – die Wirklichkeit, die er selbst sich gab und die ihr ihm gegeben habt. Aber haben wir nicht eben bewiesen, daß das nur eine Illusion war? Die Wirklichkeit, die er sich gab, die kennt ihr nicht, und könnt sie nie kennen, denn sie lag in ihm drinnen und außerhalb von euch; ihr kennt nur die, die ihr ihm gegeben habt. Ja, und die, könnt ihr ihm die vielleicht jetzt nicht mehr geben, auch ohne seinen Körper vor Augen zu haben? Aber natürlich könnt ihr das! Ihr würdet euch doch auf der Stelle trösten, wenn ihr glauben könntet, er sei nur verreist. Ihr sagt nein? Aber habt ihr sie ihm denn nicht früher so oft gegeben, als ihr ihn wirklich auf Reisen wußtet? Und ist es nicht vielleicht dieselbe Wirklichkeit, die ich hier aus der Ferne dem Herrn Herbst gebe, von dem ich nicht weiß, ob er gestorben oder noch am Leben ist?
Ach, hört doch auf! Wißt ihr, um was ihr eigentlich weint? Ihr weint aus einem ganz anderen Grund, meine Lieben, den ihr nicht einmal im entferntesten ahnt. Ihr weint, weil er, derTote, euch keine Wirklichkeit mehr geben kann. Euch ängstigen seine geschlossenen Augen, die euch nicht mehr erblicken können; seine harten, eiskalten Hände, die euch nicht mehr berühren können. Ihr könnt euch nicht beruhigen über seine absolute Gefühllosigkeit. Also gerade darüber, daß er, der Tote, euch nicht mehr fühlen kann. Und das heißt, daß ihr mit ihm eine Stütze, einen Trost eurer eigenen Illusion verloren habt: die Wechselseitigkeit der Illusion.
Wenn er verreist war, dann haben Sie, seine brave Ehefrau, zu sich selbst gesagt:
“Wenn er aus der Ferne an mich denkt, dann bin ich für ihn lebendig.”
Und das hat Sie gestützt und getröstet. Nun aber, da er tot ist, sagen Sie nicht mehr:
“Ich bin für ihn nicht mehr lebendig!”
Sie sagen stattdessen:
“Er ist für mich nicht mehr lebendig!”
Aber natürlich ist er für Sie lebendig! So lebendig wie er es in diesem Rahmen sein kann, nämlich im Rahmen des bißchen Wirklichkeit, die Sie ihm gegeben haben. Die Wahrheit ist freilich, daß Sie ihm stets eine sehr labile Wirklichkeit gegeben haben, eine Wirklichkeit, die ganz auf Sie, auf die Illusion Ihres Lebens zugeschneidert war, und gar nicht oder nur sehr wenig auf seine.
Und das ist der Grund dafür, daß die Toten jetzt zu mir kommen. Mit mir sitzen sie dann, die armen Pensionäre der Erinnerung, und stellen bittere Betrachtungen an über die eitlen Illusionen des Lebens, die sie alle verloren haben, die ich aber noch nicht ganz aufgeben kann, obwohl sie auch mir so wie ihnen eitel erscheinen.
© Michael Rössner.
In Italiano – I pensionati della memoria (1914)
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