In Italiano – Il gatto, un cardellino e le stelle (1917)
Erstveröffentlichung in der Zeitschrift “Penombra” 1917; keine wesentlichen Varianten bekannt.
aus dem Italienischen von Michael Rössner
Der Kater ein Distelfink und die Sterne
Ein Stein. Noch ein Stein. Der Mensch geht vorüber und sieht sie nebeneinander liegen. Aber was weiß dieser Stein schon von dem Stein neben sich? Und was das Wasser, das im Graben fließt, vom Graben? Der Mensch sieht das Wasser und sieht den Graben; er hört das Wasser hindurchfließen und versteigt sich sogar zu dem Gedanken, das Wasser könnte im Vorüberfließen dem Graben weiß Gott was für Geheimnisse mitteilen.
Ach, was für eine Sternennacht über den Dächern dieses armseligen Dörfchens in den Bergen! Wenn man den Himmel von diesen Dächern aus betrachtete, hätte man schwören mögen, die Sterne sähen in dieser Nacht nichts anderes an, so lebhaft strahlten sie gerade darüber.
Und die Sterne haben auch keine Ahnung von der Erde.
Diese Berge? Ja, ist es denn die Möglichkeit, daß sie nicht wissen, daß sie zu diesem Dörflein gehören, das seit fast tausend Jahren in ihrer Mitte liegt? Alle wissen, wie sie heißen, Monte Corno, Monte Moro; und sie wüßten nicht einmal, daß sie Berge sind? Und dann wäre also auch das älteste Haus dieses Dörfleins sich nicht bewußt, daß es hier aufgerichtet worden ist, daß es diese Straße hier einrahmt, die die älteste aller Straßen ist? Ja, kann denn das möglich sein?
Und was wäre dann?
Dann glaubt ruhig, wenn euch das Spaß macht, daß die Sterne nichts anderes sehen als die Dächer eures Dörfleins zwischen den Bergen.
Ich habe zwei alte Leutchen kennengelernt, die einen Distelfink besaßen. Die Frage, wie die runden, lebhaften Äuglein dieses Distelfinks ihre Gesichter, den Käfig, das Haus mit all den alten Möbeln sähen, und was der Kopf dieses Distelfinks über all die Liebkosungen und Zärtlichkeiten dachte, mit denen sie ihn überhäuften, war diesen beiden alten Leutchen mit Sicherheit noch nie gekommen; so sicher waren sie, daß der Distelfink, wenn er sich auf der Schulter des Großväterchens oder des Großmütterchens niederließ und wenn er an ihrem runzligen Hals oder am Ohrläppchen knabberte, sehr gut wußte, daß das, worauf er sich niedergelassen hatte, eine Schulter war, und daß, woran er knabberte, ein Ohrläppchen war, und daß Schulter und Ohr ihm und nicht ihr gehörte. War es denn möglich, daß er sie nicht beide kannte? Daß er nicht wußte, daß der eine das Großväterchen und die andere das Großmütterchen war? Und daß er sich nicht darüber im klaren war, daß sie ihn beide so sehr liebten, weil er der Distelfink ihrer verstorbenen Enkelin war, die ihn so gut abgerichtet hatte, daß er auf die Schulter flog, am Ohr knabberte und im Haus frei herumflog?
Im Käfig, der zwischen den Vorhängen am Fensterkreuz hing, hielt er sich nur des Nachts auf und tagsüber in den kurzen Augenblicken, in denen er seine Hirsekörner aufpickte und mit vielen koketten Verbeugungen ein Tröpfchen Wasser trank. Mit einem Wort, der Käfig war sein Königspalast und das Haus war sein weites Königreich. Und oft ließ er auf dem Lampenschirm der Hängelampe im Eßzimmer oder auf der Rückenlehne des Großvaterstuhls seine Triller los und auch noch was anderes… naja, er war eben ein Distelfink!
“Schmutzfink!”, zankte ihn das alte Großmütterchen aus, wenn sie ihn dabei ertappte. Und sie lief mit dem Lappen herbei, immer bereit zu putzen, als wäre ein Kind im Haus, von dem man noch nicht erwarten konnte, daß es genug Verstand besäße, gewisse Dinge ordentlich und am richtigen Ort zu erledigen. Und unterdessen erinnerte sie sich an sie, die alte Großmutter, an die Enkelin erinnerte sie sich, die ihr genau diese Putzerei, armes Schätzchen, mehr als ein Jahr hindurch aufgebürdet hatte, bis sie endlich, als braves Kindchen…
“Erinnerst du dich, hm?”
Und der Alte – was heißt erinnern? Er sah sie förmlich noch vor sich im Haus herumlaufen, ganz winzigklein – so! Und er schüttelte lange Zeit den Kopf.
Sie waren allein zurückgeblieben, die beiden Alten, mit dem Waisenkind, das da von Kindesbeiden bei ihnen aufgewachsen war, und das die Freude ihres Alters hätte werden sollen; aber stattdessen, mit fünfzehn Jahren…. Nun, aber lebendig von ihr zurückgeblieben war doch – Triller und Flügel – die Erinnerung, der Distelfink. Dabei hatten sie ja zuerst nicht einmal an ihn gedacht! In der Verzweiflung, in die sie nach dem Unglück verfallen waren, wie hätten sie da an einen Distelfink denken können? Aber auf ihre gebugten Schultern, zuckend unter der Gewalt des Schluchzens, da hatte er, der Distelfink – ja, er, er – sich ganz von selbst sanft hingesetzt, hatte das Köpfchen dahin und dorthin gewendet, den Hals gereckt und dann einen kleinen Biß mit dem Schnabel liebevoll hinters Ohr, als wollte er sagen, daß… ja freilich, er war etwas, das von ihr lebendig geblieben war; lebendig, immer noch am Leben, etwas, das ihre Fürsorge brauchte, dieselbe Liebe, die sie für das Mädchen gehabt hatten.
Wie zitterte doch die klobige Hand des Alten, als er den Distelfink daraufsetzte, um ihn schluchzend seiner guten Alten zu zeigen! Was regnete es da Küsse auf dieses Köpfchen, auf dieses Schnäbelchen. Aber er wollte sich nicht von dieser Hand fangen, von ihr einsperren lassen, er schlug mit den Füßchen um sich, mit dem Köpfchen; er beantwortete die Küsse der beiden Alten mit Schnabelhieben.
Das Großmütterchen war ganz, ganz sicher, daß der Distelfink mit diesen Zwitschertönen noch immer sein kleines Frauchen rufen wollte, und daß er, wenn er hin und her durch die Zimmer flatterte, nach ihr suchte, ohne Ruhe und Rast nach ihr suchte, sich einfach nicht damit abfinden konnte, daß er sie nicht mehr fand; und daß das alles Reden war, die er an sie hielt, diese langgezogenen Triller; Fragen, ja, richtige Fragen, wie man sie mir Worten nicht deutlicher hätte stellen können. Dreimal, viermal hintereinander wiederholte er diese Fragen, die nach einer Antwort verlangten und den Ärger darüber verrieten, daß er keine bekam.
Aber wie denn, wenn es doch andererseits ebenso ganz, ganz sicher war, daß der Distelfink über den Tod Bescheid wußte? Wenn er es wußte, wen rief er dann? Von wem erwartete er eine Antwort auf seine Fragen, wie man sie mir Worten nicht deutlicher hätte stellen können?
Nun, mein Gott, er war eben doch ein Distelfink! Bald rief er nach ihr, bald beweinte er sie. Konnte man den ernsthaft daran zweifeln, daß er – in diesem Augenblick zum Beispiel, wenn er da ganz zusammengekauert auf dem Stab seines Käfigs saß, das Köpfchen eingezogen, das Schnäbelchen in die Höhe gereckt und mit halbgeschlossenen Augen – daß er da an das tote Mädchen dachte? So gewisse kurze, unterdrückte Piepstöne stieß er in solchen Augenblicken aus, und die waren doch der schlagendste Beweis dafür, daß er an sie dachte, sie beweinte und sich beklagte. Es zerriß einem förmlich das Herz, wenn man diese Piepstöne hörte.
Nein, der alte Großvater sagte ja gar nichts dagegen. Er war sich der Sache ja genauso sicher wie seine gute Alte! Und dennoch stieg er ganz sachte auf den Stuhl, als wollte er tatsächlich diesem armen gequälten Seelchen ein paar Trostworte zuflüstern, und dabei – fast, als wollte er selbst nicht dabei zusehen, was er tat – dabei öffnete er das Käfigtürchen, das zugefallen war.
“Da fliegt er davon! Na, da fliegt er, der Lausebengel!”, rief der Alte, während er sich auf dem Stuhl umdrehte, mit lachenden Augen, die beiden Handflächen vorstreckend, als wollte er ihn aufhalten.
Und dann stritten Großpapa und Großmama. Sie stritten, weil sie es ihm schon hundertmal gesagt hatte, er solle ihn in Ruhe lassen, wenn er so im Käfig hockte, er solle ihn nicht in seinem Kummer aufscheuchen. Na, hörte er das jetzt?
“Er singt”, sagte der Alte.
“Was heißt, er singt!”, keifte sie zurück und zuckte die Achseln. “Der erzählt dir was Schönes! Der hat einen Affenzorn auf dich!”
Und sie lief hin, um ihn zu beruhigen. Aber wie wollte man ihn denn beruhigen? Er sprang hierhin und dorthin, richtig gekränkt war er. Und ganz zu Recht, denn er mußte ja den Eindruck haben, daß man in diesen Augenblicken keine Achtung vor ihm hatte.
Das Schöne war nur, daß der Großvater sich nicht nur all die Beschimpfungen der Großmutter geduldig anhörte, ohne ihr zu sagen, daß das Käfigtürchen zugefallen war, und daß der Distelfink vielleicht deshalb so klagend gepiepst hatte, nein, er weinte, als er seine gute Alte so reden hörte, während sie dem Distelfink nachlief und gestand es selbst ein, während er unter Tränen den Kopf schüttelte:
“Der Ärmste, er hat ganz recht… der Ärmste, er hat ganz recht… er meint, wir hätten keine Achtung vor ihm!”
Denn der Großvater wußte sehr gut, was es heißt, wenn man spürt, daß die anderen keine Achtung vor einem haben. Vor ihnen beiden, den armen Alten, hatte auch niemand mehr Achtung, sie waren das Gespött des Dorfes, weil sie nur noch für diesen Distelfink lebten, und weil sie sich selbst dazu verdammten, ständig bei geschlossenem Fenster lebten; ja, auch er, der alte Großvater, hatte sich dazu verdammt, die Nase nicht mehr vor die Türe zu stecken, denn er war zwar alt und heulte zu Hause wie ein kleines Kind, aber, he! – also auf der Nase herumtanzen hatte er sich noch von keinem lassen, und hätte einer auf der Straße auf die dumme Idee gekommen, sich über ihn lustig zu machen, dann hätte er sein Leben (was für einen Wert hatte das Leben denn noch für ihn?) wie nichts, jawohl, wie nichts aufs Spiel gesetzt. Jawohl, meine Herrschaften, für diesen Distelfink da, wenn jemand auf die dumme Idee gekommen wäre, ein falsches Wort zu sagen. Dreimal, in seiner Jugend, da stand es auf des Messers Schneide… da ging’s um Kopf und Kragen oder wenigstens um die Freiheit! Ach, ihm lag nicht viel daran, die Augen auf immer zu schließen!
Jedes Mal, wenn diese gewalttätigen Gedanken sein Blut in Wallung brachten, stand der alte Großvater auf, oft mit dem Distelfink auf der Schulter, ging zum Fenster und sah mit grimmigem Blicken durch die Glasscheibe auf die Fenster der Häuser gegenüber.
Daß das dort Häuser waren, dort gegenüber, daß das Fenster waren, mit Rahmen und Scheiben, mit Brüstungen, Blumentöpfen und allem, was dazugehört; daß das Dächer waren, mit Rauchfängen, Ziegeln, Dachrinnen, daran konnte der alte Großvater nicht zweifeln – er wußte ja noch dazu, wem sie gehörten, wer dort drinnen war, und wie man dort wohnte. Das Schlimme war nur, daß ihm nicht im geringsten die Frage in den Sinn kam, was dagegen für den Distelfink, der auf seiner Schulter hockte, dieses sein eigenes Haus und die anderen Häuser gegenüber waren; und auch nicht, was sie für diesen prächtigen weißen Kater bedeuteten, der auf dem Fensterbrett des Fensters gegenüber hockte und sich mit geschlossenen Augen die Sonne auf den Pelz scheinen ließ. Fenster? Glasscheiben? Dächer? Ziegel? Mein Haus? Dein Haus? Für diesen riesigen weißen Kater: Mein Haus? Dein Haus? Aber wenn er nur hineingelangen konnte, waren doch alle Häuser sein! Häuser? Was heißt denn Häuser! Orte, wo man etwas mitgehen lassen konnte; Orte, wo man mehr oder weniger bequem schlafen konnte; oder auch, wo man sich schlafend stellen konnte.
Glaubten denn die beiden alten Großeltern tatsächlich, wenn sie immer Fenster und Türe des Hauses geschlossen hielten, könnte ein Kater, wenn ihm wirklich daran läge, nicht einen anderen Weg finden, ins Haus zu gelangen und diesen Distelfink zu verspeisen?
Und war es nicht wirklich ein bißchen zu viel verlangt, daß der Kater wissen sollte, daß dieser Distelfink für die beiden alten Großeltern alles war, was sie im Leben noch hatten, weil er ihrer verstorbenen Enkelin gehört hatte, die ihn so gut abgerichtet hatte, daß er im Haus frei herumfliegen konnte, außerhalb des Käfigs? Und daß er wissen sollte, daß der alte Großvater, als er ihn einmal hinter einem der Fenster auf der Lauer liegen und durch das Glas den sorglosen Flug des Distelfinks durch die Zimmer beobachten gesehen hatte, wütend zu seinem Besitzer gelaufen war, um ihn zu warnen, wehe, wehe, wenn er noch einmal dieses Katzenvieh dort erwischen würde? Dort? Wann? Wie? Das Frauchen… die Großeltern… das Fenster… der Distelfink?
Und so verspeiste er ihn eines Tages – aber freilich, diesen Distelfink, der seinetwegen auch ruhig ein anderer Vogel hätte sein können, er verspeiste ihn, nachdem er, Gott weiß wie, sich in das Haus der beiden Alten geschlichen hatte. Die Großmutter – es war schon fast Abend – vernahm von drüben gerade so etwas wie ein leises Klagen, einen unterdrückten Piepser; der Großvater eilte herbei, sah gerade noch etwas Weißes durch die Küche davonhuschen und ein paar kleine Brustfedern, die allerzartesten, auf dem Boden verstreut, wo sie sich in dem Lufthauch seines Eintretens auf dem Marmorboden ganz sachte bewegten. Welch ein Schrei! Seine gute Alte versuchte ihn vergeblich zurückzuhalten, der Großvater packte sein Gewehr und lief wie ein Verrückter zum Haus der Nachbarin. Nein, nicht die Nachbarin, den Kater, freilich, den Kater wollte er erschießen, der Alte, dort, vor ihren Augen. Und so schoß er in das Eßzimmer hinein, als er ihn dort seelenruhig auf der Kredenz sitzen sah, schoß einmal, zweimal, dreimal, bis das Geschirr in Brüche ging und der Sohn der Nachbarin, seinerseits mit einem Gewehr bewaffnet, hinzustürzte und auf den Alten anhielt.
Eine Tragödie. Unter Schreien und Weinen trug man den Großvater sterbend, mit einer Schußwunde in der Brust in sein Haus zurück, zu seiner guten Alten.
Der Sohn der Nachbarin war in den Wald geflohen. Zwei Familien waren ruiniert; das ganze Dorf war eine Nacht lang in hellem Aufruhr.
Und der Kater konnte sich einen Augenblick später schon gar nicht mehr daran erinnern, daß er einen Distelfink gefressen hatte – einen beliebigen Distelfink; und er hatte nicht einmal begriffen, daß der Alte auf ihn geschossen hatte. Er hatte einen riesigen Luftsprung gemacht, als es krachte, war davongelaufen, und nun – da war er wieder – nun lag er ganz friedlich, so sehr weiß auf dem schwarzen Dach, und betrachtete die Sterne, die aus der tiefschwarzen Neumondnacht herausguckten und dabei – da kann man ganz sicher sein – nicht im geringsten von den armseligen Dächern dieses kleinen Dorfes zwischen den Bergen Notiz nahmen. Und doch leuchteten sie so hell gerade darüber, daß man hätte schwören mögen, sie sähen in dieser Nacht nichts anderes an.
© Michael Rössner.
In Italiano – Il gatto, un cardellino e le stelle (1917)
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