Das wartende zimmer – 1916

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In Italiano – La camera in attesa (1916)

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Das wartende zimmer

Erstveröffentlichung Mai 1916 in La lettura; keine Varianten bekannt.

aus dem Italienischen von Michael Rössner

Das wartende zimmer

Es erhält auch jeden Morgen ein wenig Licht, dieses Zimmer, wenn reihum eine der drei Schwestern kommt, um ein wenig sauber zu machen, ohne daß sie sich dabei umsieht. Aber kaum daß Jalousien und Fenster wieder geschlossen und die Blenden herabgestellt sind, wird der Schatten auf der Stelle streng und hart wie in einem unterirdischen Gewölbe; und als wäre dieses Fenster seit Jahren nicht geöffnet worden, wird die Strenge und Härte dieses Schattens sofort spürbar, wird förmlich zu dem fühlenden Atem des in der Leere hängenden Schweigens über den Möbeln und Gegenständen, die ihrerseits jeden Tag wie bestürzt erscheinen über die Sorgfalt, mit der man sie abgestaubt, gesäubert und zurechtgerückt hat.

Der Wandkalender beim Fenster, der spürt sicher das Abreißen eines weiteren Blattes schmerzlich, als schiene es ihm eine unnötige Grausamkeit, daß man ihn zwingt, in diesem leeren Schatten und in diesem Schweigen noch das Datum anzuzeigen. Und die alte Bronzeuhr in Form einer Amphore auf der Marmorplatte der Kommode macht den Eindruck, als empfinde sie die Gewalt, die man ihr antut, indem man sie zwingt, noch immer hier drinnen ihr dumpfes Ticktack auszustoßen.

Auf dem Nachttischchen jedoch scheint die bauchige Wasserflasche aus grünem, goldverziertem Kristallglas, der das lange, umgestülpte Glas wie ein Hütchen auf dem Hals sitzt, und die durch die Fensterblenden des gegenüberlie­genden Fensters einen kleinen Lichtstrahl einfängt, über die ganze in dem Zimmer verbreitete Bestürzung zu lachen.

Tatsächlich gibt es da etwas Lebendiges und Witziges auf diesem Nachttischchen.

Das Lachen der Wasserflasche kommt sicher von diesem Lichtstrahl, aber vielleicht auch daher, daß es der bauchi­gen Flasche mit diesem Lichtstrahl gelingt, auf der blanken Marmorplatte die Grimassen der beiden Figuren zu erblicken, die auf einer nun schon seit vierzehn Monaten hier liegenden Zündholzschachtel abgebildet sind; so lange liegt die Schach­­tel schon da, damit sie gegebenenfalls bereit ist, die Kerze anzuzünden, die auch schon seit vierzehn Monaten in dem Kerzenhalter aus emailliertem Eisen in Form eines Klee­blatts steckt, mit dem Griff und der Röhre aus Messing daran.

In der Erwartung der Flamme, die sie verzehren soll, ist die Kerze auf dem Kleeblatt des Kerzenhalters allmählich gelb geworden wie eine überreife Jungfrau. Und man möchte wetten, daß die beiden wie Lausbuben grimassenschneidenden Figuren auf der Zündholzschachtel sie mit den drei ebenfalls schon ziemlich reifen Schwestern vergleichen, von denen jeden Tag eine hier hereinkommt, um in dem Zimmer sauber zu machen und aufzuräumen.

Ach, auch wenn sie noch ganz intakt ist, die arme jungfräuliche Kerze, sollten die drei Schwestern sie austauschen, wenn schon nicht jeden Tag, wie sie es mit dem Wasser in der Flasche tun (die auch deshalb so lebendig ist und so bereit, bei jedem Lichtstrahl zu lachen), dann doch wenigstens alle vierzehn Tage, jeden Monat meinetwegen! Damit man sie nicht ansehen muß, wie sie so gelb da steckt, damit man nicht in dieser Gelbheit die vierzehn Monate sehen muß, die vergangen sind, ohne daß irgendjemand sie angezündet hätte, abends auf diesem Nachttischchen.

Und das ist wirklich eine beklagenswerte Unterlassung, denn nicht nur das Wasser in der Flasche, nein, alles wechseln diese drei Schwestern: alle vierzehn Tage die Bettücher und die Überzüge des Bettes, das sie jeden Morgen mit liebevoller Sorgfalt machen, als hätte wirklich jemand darin geschlafen; zweimal in der Woche das Nachthemd, das sie jeden Abend, nachdem sie die Decken zurückgeschlagen haben, aus dem Sack aus Atlasstoff holen, der an dem blauen Bändchen am Kopfende des weißen Bettgestells aufgehängt ist, und auf dem Bett ausbreiten, wobei sie den hinteren Schoß aufschlagen, wie es sich gehört. Und Gott, sie haben sogar noch die Pantoffeln vor dem Lehnstuhl am Fußende des Bettes gewechselt. Sicherlich: Die alten haben sie fortgeworfen, in die Kommode, und an ihre Stelle, dort auf den Bettvorleger, ein Paar neue, samtene gestellt, die die Jüngste der Drei bestickt hat. Und der Kalender? Der dort beim Fenster ist schon der zweite. Der andere, der von vorigem Jahr, der hat erleben müssen, wie sie ihm, eines nach dem anderen, alle Blätter aller Tage sämtlicher zwölf Monate ausgerissen haben, Morgen für Morgen, mit unerbittlicher Pünktlichkeit. Und es besteht keine Gefahr, daß die älteste der drei Schwestern einmal darauf vergäße, jeden Samstag um vier Uhr nachmittags in das Zimmer zu gehen, um die alte Bronzeuhr auf der Kommode aufzuziehen, die so unwillig die Stille mit ihrem Ticken zerreißt und die beiden Zeiger ganz langsam über das Zifferblatt bewegt, so daß man es nicht sieht, als wollte sie damit sagen, daß sie es nicht absichtlich macht, nicht zu ihrem Vergnügen, sondern deshalb, weil sie durch das Aufziehen dazu gezwungen wird.

Die beiden grimassenschneidenden Figuren der Zündholz­schachtel sehen sichtlich nicht, was die alte Bronzeuhr mit ihrem weißen, runden Zifferblattauge und der Kalender von der Höhe der Wand herab mit seiner roten Zahl, die das Datum bezeichnet, sehen können: den traurigen Effekt dieses auf dem Bett ausgebreiteten Nachthemds und dieser beiden neuen Pantoffel, die auf dem Bettvorleger vor dem Lehnstuhl warten.

Was die in dem Kleeblattkerzenhalter steckende Kerze betrifft, nun die ist so gerade und so verloren in ihrer gelben Steifheit, daß sie sich nicht um das Vergnügen dieser beiden grimassenschneidenden Figuren und um das Lachen der bauchigen Flasche kümmert, weil sie recht gut weiß, auf was sie dort wartet, noch unberührt und schon so gelb geworden.

Auf was denn?

 Tatsache ist, daß seit vierzehn Monaten diese drei Schwestern und ihre schwerkranke Mutter glauben, auf diese Weise die wahrscheinliche Rückkehr ihres Bruders beziehungs­weise Sohnes Cesarino erwarten zu können und zu müssen, Cesarinos, der als Leutnant der Reserve im 25. Infanterieregiment nach Tripolitanien gegangen ist (nun ist es schon mehr als zwei Jahre her) und dort in den Fezzan abkomman­diert wurde.

Seit vierzehn Monaten, das ist schon richtig, sind sie ohne Nachricht von ihm. Mehr noch: Nach vielen bangen Nachforschungen, Bitten und Vorstellungen ist endlich vom Kolonial-Oberkommando die offizielle Mitteilung eingelangt, daß der Leutnant Mochi Cesare nach einem Gefecht mit Aufständischen, da er weder unter den Toten noch unter den Verwundeten, noch auch unter den Gefangenen aufschien, von denen man sichere Nachricht hatte, als vermißt gelten muß, ja geradezu als spurlos verschwunden.

Zu Beginn hat dieser Fall bei allen Nachbarn und Bekann­ten dieser Mutter und dieser drei Schwestern großes Mitleid ausgelöst. Mit der Zeit ist das Mitleid freilich erkaltet und von einer gewissen Gereiztheit, bei manchen sogar von einer wahren Entrüstung über das abgelöst worden, was als “Komödie” erscheint, nämlich dieses so peinlich genau in Ordnung gehaltene Zimmer, bis hin zu dem auf dem aufgeschlagenen Bett ausgebreiteten Nachthemd; fast so, als wollten diese vier Frauen mit ihrer “Komödie” jenem armen jungen Mann ihren Tribut an Tränen verweigern und sich selbst den Schmerz ersparen, seinen Tod zu beweinen.

Nur zu bald haben die Nachbarn und Bekannten vergessen, daß sie es ja selbst waren, ja, gerade sie, die beim Ein­langen der Mitteilung des Kolonial-Oberkommandos, als diese Mutter und die drei Schwestern schon begonnen hatten, den Tod ihres geliebten Bruders und Sohnes mit herzzerreißenden Schreien zu beklagen, sie nach und nach mit vielen Argumenten, von denen eines überzeugender war als das andere, dazu gebracht haben, nicht so zu verzweifeln. Weshalb denn seinen Tod be­weinen – haben sie gesagt – wenn es doch in dieser Mitteilung ausdrücklich heißt, daß man den Offizier Mochi nicht unter den Toten gefunden hatte. Er war vermißt; er konnte ja jeden Augenblick zurückkehren: aber ja, auch nach einem Jahr, wer weiß! In Afrika, verirrt, irgendwo verborgen… Und sie waren es auch, die davon abrieten, ja, die Mutter und die drei Schwestern beinahe daran verhinderten, sich schwarz zu kleiden, wie sie es auch in der Unsicherheit am liebsten getan hätten. “Nein, kein Schwarz”, haben sie damals gesagt. “Warum denn so ein böses Vorzeichen setzen?” Und bei dem ersten Anflug von Hoffnung in diesen armen Frauen, der sich noch in Form eines Zweifels ausdrückte: “Wer weiß… ja, vielleicht mag er noch am Leben sein”, da haben sie in höchster Eile geantwortet:

“Aber natürlich wird er noch am Leben sein! Ganz sicher ist er noch am Leben!”

Nun, ist es da nicht ganz natürlich, daß nun, da tatsächlich jeder sichere Beweis für die Annahme fehlt, daß ihr geliebter Sohn und Bruder tot wäre, und sie stattdessen, wie alle es wollten, sich die Illusion zueigen gemacht haben, er könnte noch leben, daß nun also diese arme kranke Mutter und diese drei Schwestern dieser Illusion, so gut sie es vermögen, die Konsistenz einer Realität verleihen? Aber ja, genau das tun sie, indem sie dieses Zimmer warten lassen, es immer wieder mit allergrößter Sorgfalt aufräumen, jeden Abend das Nachthemd aus dem Kleidersack holen und es auf den zurückgeschlagenen Decken ausbreiten. Denn wenn sie sich einmal überzeugen ließen, daß sie seinen Tod nicht beweinen müssen, daß sie nicht verzweifeln müssen, weil er gestorben wäre, dann müssen sie ihm doch ganz zwangsläufig zeigen, ihm, der für sie lebte, ihm, der ja tatsächlich jeden Augenblick zurückkehren konnte, daß sie ‑ ja freilich ‑ daß sie sich dessen so sicher gewesen sind, daß sie ihm sogar jeden Abend sein Nachthemd vorbereitet haben, dort auf dem Bett, und daß sie jeden Morgen sein Bett gemacht haben, als hätte er in der Nacht tatsächlich darin geschlafen. Und da stehen auch die neuen Pantoffel, die Margheritina während des Wartens nicht bloß besticken, sondern auch noch zum Schuster tragen wollte, damit der sie fachgemäß zusammennäht; so wird er sie, kaum daß er zurück ist, an der Stelle der alten zum Anziehen bereit vorfinden.

Entschuldigen Sie mal:

“Sind denn vielleicht Ihr Sohn, Ihre Tochter nicht gestorben, wenn sie zum Studium in die weit entfernte große Stadt gefahren sind?”

Ach, Sie klopfen auf Holz? Sie fallen mir ins Wort und schreien, die wären gar nicht tot, nicht im geringsten? Die würden doch am Ende des Jahres zurückkommen und einstweilen erhalten Sie pünktlich jede Woche zweimal Nachricht von ihnen?

Beruhigen Sie sich nur, ist schon gut, ich glaube es ja. Aber wie kommt es dann, daß Sie, wenn Ihr Sohn oder Ihre Tochter nach einem Jahr oder mehr aus der großen Stadt zurückkommen, bei ihrem Anblick ganz verblüfft, ganz entgeistert sind; daß Sie, jawohl Sie, mit erhobenen Händen, als wollten Sie einen Zweifel zurückdrängen, der Ihnen Angst macht, ausrufen:

“O Gott, bist du es wirklich? O Gott, sie ist ja eine ganz andere geworden!”

Nicht nur in der Seele eine andere, das heißt in ihrem Denken und Fühlen; nein, sogar im Klang der Stimme, auch im Körper eine andere, in der Gestik, in der Art sich zu bewegen, zu schauen, zu lächeln…

Und ganz verdattert fragen Sie:

“Wie ist das möglich? Waren ihre Augen wirklich so? Ich hätte schwören mögen, daß ihr Näschen, als sie wegfuhr, ein bißchen mehr nach oben stand…”

Die Wahrheit ist einfach, daß Sie in Ihrem Sohn oder in Ihrer Tochter, wenn die nach einem Jahr wiederkommen, nicht mehr dieselbe Wirklichkeit erkennen können, die Sie ihnen gegeben haben, ehe sie abfuhren. Es gibt sie nicht mehr, sie ist tot, diese Wirklichkeit. Und dennoch kleiden Sie sich nicht schwarz um dieses Todes willen und beweinen ihn nicht… oder ja, Sie beweinen ihn sogar, wenn es Sie schmerzt, daß dieser andere, der da zu Ihnen zurückgekommen ist an Stelle Ihres Kindes, daß dieser andere einer ist, den sie nicht wiederzuerkennen vermögen, nicht wiedererkennen können.

Ihr Sohn, der, den Sie gekannt haben, ehe er fortging, der ist tot, glauben Sie es mir, er ist tot. Nur die An­wesenheit eines Körpers (und auch der ist so verändert!) läßt Sie das verneinen. Aber Sie merken es sehr wohl, daß der ein anderer war, der vor einem Jahr wegfuhr, und er ist nicht mehr zurückgekommen.

Nun, auf eben dieselbe Weise kehrt auch dieser Cesarino Mochi, der vor zwei Jahren nach Tripolitanien gefahren ist und dort in den Fezzan abkommandiert wurde, nicht zu seiner Mutter und seinen drei Schwestern zu­rück.

Sie wissen es nun sehr gut, daß die Wirklichkeit nicht davon abhängt, ob ein Körper da ist oder nicht. Der Körper kann da sein und dennoch für die Wirklichkeit, die Sie ihm gegeben haben, gestorben sein. Was das Leben ausmacht, ist also bloß die Wirklichkeit, die Sie ihm geben. Und daher kann der Mutter und den drei Schwestern des Cesarino Mochi tatsächlich das Leben genügen, das er für sie weiterhin hat, hier in der Wirklichkeit der Handlungen, die sie für ihn jeden Tag voll­führen, in diesem Zimmer, das ihn wohlgeordnet erwartet und bereit ist, ihn zu empfangen, so, wie er vor seiner Abreise war.

Nun, für diese Mutter und diese drei Schwestern besteht keine Gefahr, daß er als ein anderer zurückkommt, wie das mit Ihrem Sohn am Ende des Studienjahres geschehen ist.

Cesarinos Wirklichkeit ist unabänderlich hier in seinem Zimmer und im Herzen und im Geist dieser Mutter und dieser drei Schwestern, die für sich, außerhalb dieser Wirklich­keit, keine andere besitzen.

“Tittí, den wievielten haben wir heute?” fragt die kranke Mutter aus ihrem Lehnstuhl die jüngste ihrer drei Töchter.

“Den fünfzehnten”, antwortet Margherita, indem sie den Kopf von ihrem Buch aufhebt; aber sie ist sich nicht ganz sicher und fragt ihrerseits die beiden Schwestern weiter: “Den fünfzehnten, nicht wahr?”

“Den fünfzehnten, ja”, bestätigt Nanda, die älteste, von ihrem Stickrahmen aus.

“Den fünfzehnten”, wiederholt die nähende Flavia.

Auf der Stirn aller drei erscheint dieser Frage der Mutter wegen, auf die sie geantwortet haben, ein und dieselbe Falte.

In der Stille des weiten, hellen Eßzimmers, das von weißen Musselinvorhängen ein wenig abgeschirmt wird, ist ein Gedanke eingedrungen, der üblicherweise, nicht mit Vorbedacht, aber doch ganz instinktiv von den vier Frauen ferngehalten wird: der Gedanke der verrinnenden Zeit.

Die drei Schwestern haben den Grund dieses angstvollen Gedankens im Geist der kranken, an den Lehnstuhl gefessel­ten Mutter erraten; und deshalb haben sie die Stirne in Falten gezogen.

Es ist gar nicht Cesarinos wegen.

Es gibt da eine andere, es gibt eine andere – nicht hier im Haus, aber eine, die morgen vielleicht schon, wer weiß, die Königin dieses Hauses sein könnte – Claretta, die Verlobte des Bruders – es gibt da sie, ja, leider, sie, die einen an die verrinnende Zeit denken läßt.

Als die Mutter danach fragte, den wievielten man gerade habe, wollte sie damit die Tage zählen, die seit Clarettas letztem Besuch vergangen sind..

Zunächst kam das liebe Kind (und sie war ja wirklich ein Kind, die Claretta, für die drei ein wenig ältlichen Schwestern) fast jeden Tag, in der Hoffnung, daß die Nachricht gekommen sei; denn sie war sicher, sicherer als alle anderen, daß die Nachricht bald kommen würde. Und dann betrat sie freudestrahlend das Zimmer ihres Verlobten und ließ dort immer eine Blume und einen Brief zurück. Ja, denn sie schrieb weiter wie gewohnt jeden Abend einen Brief an Cesarino. Und die Briefe ‑ nun, anstatt sie abzuschicken, brachte sie sie nun hierher, damit er, Cesarino, sie gleich nach seiner Ankunft finden würde.

Die Blume verwelkte, der Brief blieb liegen.

Dachte Claretta vielleicht, wenn sie unter der welken Blume den Brief vom Vortag fand, daß auch dessen Duft verströmt war, ohne daß sich jemand daran berauscht hätte? Sie legte ihn in die Lade des kleinen Schreibtisches beim Fenster und ließ an seiner Stelle den neuen Brief zurück, auf den sie eine neue Blume legte.

Diese liebevolle Szene wiederholte sich lange, Monate um Monate hindurch. Aber eines Tages kam die Kleine mit mehr Blumen als üblich, ja, aber ohne Brief. Sie sagte, sie habe am Abend zuvor geschrieben, ach, sogar noch länger als üblich, und sie würde auch weiterhin jeden Abend schreiben, aber in ein Tagebuch, denn ihre Mamma habe ihr zu bedenken gegeben, es wäre doch eine unnütze Verschwendung von Briefpapier und Kuverts gewesen, was sie bisher getan hatte.

Und es war ja wirklich so: was wichtig war, war doch der Gedanke, jeden Tag zu schreiben; ob sie nun auf Brief­papier schrieb oder in ein Tagebuch, das blieb sich gleich.

Nur begann mit diesem Brief auch der tägliche Besuch Clarettas auszubleiben. Zuerst kam sie dreimal, dann zweimal, dann nur mehr einmal in der Woche zu Besuch. Schließlich blieb sie mehr als vierzehn Tage aus, mit der Entschuldigung, sie wäre in Trauer, weil ihre Großmutter mütterlicherseits gestorben war. Und zu guter letzt, als sie – nicht spontan, sondern auf Drängen der Schwestern – das erste Mal, in schwarzen Trauerkleidern, wieder Cesarinos Zimmer betrat, da kam es zu einer unerwarteten Szene, die ums Haar den drei armen Schwestern das Herz vor Schreck gebrochen hätte. Ganz plötzlich warf sie sich, so in schwarzen Kleidern, kaum daß sie das Zimmer betreten hatte, über Cesarinos weißes Bett und brach in ein verzweifeltes Weinen aus.

Warum? Was hatte denn das damit zu tun? Sie war nachher ganz verstört, wie erschlagen, angesichts der angstvollen Verblüffung, des Zitterns dieser drei bleichen Schwestern mit ihren fahlen Gesichtern; sie sagte, sie wisse selbst nicht, wie das zugegangen sei, wie es geschehen konnte… sie entschuldigte sich; sie schob die Schuld auf ihr schwarzes Kleid, auf den Schmerz um die tote Großmutter… und jedenfalls nahm sie die wöchentlichen Besuche wieder auf.

Aber die drei Schwestern empfanden nun eine gewisse Zurückhaltung bei dem Gedanken, sie in das wartende Zimmer zu führen; sie ging auch nicht selbst hinein oder bat die Schwestern, sie hineinzuführen. Und von Cesarino sprachen sie fast gar nicht mehr.

Vor drei Monaten kam sie wieder in fröhlichen, frühlingshaften Farben gekleidet, wieder aufgeblüht wie eine Knospe, sprühend vor Leben, wie die drei Schwestern und ihre arme Mutter sie schon seit langer Zeit nicht mehr gesehen hatten. Sie brachte viele, so viele Blumen und wollte sie selbst, mit eigenen Händen in Cesarinos Zimmer tragen und dort auf die Vasen auf dem Schreibtisch, auf dem Nachttischchen, auf der Kommode verteilen. Sie sagte, sie habe einen schönen Traum gehabt.

Sie blieben besorgt zurück, bedrückt und fast erschüttert von dieser überbordenden Lebhaftigkeit, von dieser wiedergeborenen Fröhlichkeit des Kindes, die drei Schwestern, die immer fahler und bleicher aussahen. Sie empfanden sie, kaum daß die erste Verblüffung gewichen war, wie den Aufprall einer grausamen Gewalttätigkeit, den Aufprall des Lebens, das übermächtig in diesem Kind wieder aufblühte und nicht länger in dem Schweigen dieses Wartens eingesperrt werden konnte, dem sie mit den fast sakralen Verrichtungen ihrer dünnen, kalten Hände noch immer und mit Hartnäckigkeit eine Maske des Lebens überstülpen wollten, gerade so viel, wie für sie nötig war. Und sie erhoben keinen Einwand, als Claretta, die dabei über und über rot anlief, sagte, es habe sie eine große Neugierde überkommen zu lesen, was sie Cesarino in ihren ersten Briefen von vor über einem Jahr geschrieben hatte, die in der Schublade des Schreibtisches eingeschlossen waren.

Mehr als hundert mußten es sein, diese Briefe, hundertzweiundzwanzig oder hundertdreiundzwanzig. Sie wollte sie alle wieder lesen. Dann würde sie sie selbst für Cesarino aufbewahren, zusammen mit den Tagebüchern. Und immer zehn auf einmal nahm sie sie alle nach und nach mit nach Hause.

Seitdem sind ihre Besuche seltener geworden. Die alte, kranke Mutter, den Blick starr auf die Armlehne ihres Lehnstuhls gerichtet, zählt die Tage, die seit ihrem letzten Besuch vergangen sind; und es ist seltsam, daß für sie und für die drei Töchter mit der gerunzelten Stirn diese Tage immer mehr werden, viel zu viel, während für den nicht zurückkehrenden Cesarino die Zeit nie vergeht; es ist, als wäre er gestern fortgefahren, Cesarino, ja sogar, als wäre er gar nicht fortgefahren, sondern nur aus dem Haus gegangen und müßte von einem Augenblick zum anderen zurückkommen, um sich mit ihnen an den Tisch zu setzen und dann dort in seinem bereitstehenden Bettchen schlafen zu gehen.

Der Zusammenbruch kommt für die arme Mutter, als sie erfährt, daß Claretta sich wieder verlobt hat.

Sie war zu erwarten, diese Nachricht, denn schon seit zwei Monaten hat Claretta sich nicht mehr blicken lassen. Aber die drei Schwestern, die weniger alt und daher weniger schwach sind als die Mutter, beharren auf ihrem Nein, diesen Verrat hätten sie nicht erwartet. Sie wollen um jedem Preis dem Zusammenbruch standhalten, und sie sagen, Claretta habe sich nicht deshalb mit einem anderen verlobt, weil Cesarino tot ist und sie deshalb wirklich keinen Grund haben konnte, immer noch auf seine Rückkehr zu warten, sondern deshalb, weil sie nach sechzehn Monaten des Wartens müde geworden sei. Sie sagen, daß ihre Mutter nicht deshalb stirbt, weil die neue Verlobung Clarettas ihr die immer schon schwache Illusion zum Einsturz gebracht hat, ihr Sohn könnte zurückkehren, sondern wegen des Kummers, den ihr Cesarino bei seiner Rückkehr über diesen grausamen Verrat Clarettas empfinden wird.

Und die Mutter sagt vom Bett aus: Ja, sie stürbe tatsächlich wegen dieses Kummers; aber in den Augen steht ihr so etwas wie ein Lachen des Lichts.

Die drei Töchter sehen sie an, diese Augen, mit einem traurigen Gefühl des Neids. Sie wird binnen kurzem nachsehen gehen, ob er dort ist; sie wird die Bangigkeit des langen Wartens hinter sich lassen; sie wird Sicherheit haben; aber sie wird nicht zurückkehren können, um ihnen davon zu berichten.

Sie würde am liebsten sagen, die Mutter, daß es dieses Berichts gar nicht bedarf, weil sie jetzt schon sicher ist, daß sie ihn dort drüben finden wird, ihren Cesarino. Aber nein, sie sagt es nicht; sie empfindet ein großes Mitleid für ihre drei armen Töchter, die allein zurück­bleiben, und die so dringend des Gedankens und des Glaubens daran bedürfen, daß Cesarino noch lebt, für sie lebt, und daß er eines Tages zurückkommen muß; und da, da verschleiert sie sanft das Licht in ihren Augen und will bis zum letzten, bis zum letzten an der Illusion ihrer drei Töchter anhängen, damit diese Illusion noch aus ihrem letzten Atemzug genährt wird und für sie lebendig bleibt. Mit dem letzten Hauch von Stimme flüstert sie:

“Ihr werdet ihm sagen, daß ich so sehr auf ihn gewartet habe…”

In der Nacht brennen die vier Totenkerzen an den vier Ecken des Bettes, und von Zeit zu Zeit knistern sie ein wenig, so daß die lange gelbe Flamme gerade ein bißchen zu flackern beginnt.

So tief ist die Stille des Hauses, daß das Knistern dieser Kerzen, so leicht es auch ist, bis hinüber in das wartende Zimmer, zu dieser gelb gewordenen Kerze dringt, die seit sechzehn Monaten auf dem Kleeblatt des Leuchters festgeklemmt ist, zu dieser von den beiden grimassenschneidenden Figuren auf der Zündholzschachtel verlachten Kerze, und bei jedem Knistern scheint es, als zucke sie zusammen, um aus diesem Zucken heraus auch für sich eine Flamme aufflackern zu lassen, damit auch sie Totenwache halten kann bei einem anderen Toten hier, auf dem unberührten Bett.

Und für diese Kerze ist es eine Art Revanche. Tatsächlich ist an diesem Abend das Wasser in der Flasche nicht gewechselt und auch das Nachthemd nicht aus dem Kleidersack geholt und auf den zurückgeschlagenen Decken ausgebreitet worden. Und der Wandkalender zeigt das Datum von gestern.

Für einen Tag ist sie stehen geblieben, die Illusion des Lebens in diesem Zimmer, und es scheint, als wäre es für immer.

Nur die alte Bronzeuhr auf der Kommode fährt fort, düsterer und verdrossener denn je in diesem dunklen Warten ohne Ende von der Zeit zu reden.

© Michael Rössner.

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