Bitterwasser – 1905

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In Italiano – Acqua amara (1905)

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Bitterwasser
Jules Bastien-Lepage, Bauern in Ruhe, 1877

Erstveröffentlichung Oktober 1905 in der Zeitschrift “Il Ventesimo“. Keine wesentlichen Varianten bekannt. In der Duellgeschichte läßt sich eine erste Version der Handlung von Il giuoco delle parti (“Das Rollenspiel“, in: Bd. 10) erkennen.

aus dem Italienischen von Michael Rössner

Bitterwasser

Wenige Leute waren an diesem Morgen in dem Park rund um die Thermen. Die Kursaison ging nun schon zu Ende.

Auf zwei benachbarten Bänken an einer Wegkreuzung unter den hohen Platanen saßen ein junger Mann mit blassem, ja gelblichem Gesicht, zum Erbarmen hager unter seinem neuen, hellen Anzug, dessen frisch gebügelte Falten in einem Zickzack herunterfielen, weil er viel zu weit war, und ein häßlicher Kerl um die Fünfzig, in einem Anzug aus billigem Tuch, voller Falten, wo die enorme Fettleibigkeit ihn nicht bis zum Platzen aufblähte, und einem alten, verbeulten Panamahut auf dem kahlgeschorenen Kopf.

Beide hielten am Henkel ihre noch ganz mit dem lauen, trüben Alkaliwasser gefüllten Gläser, die sie eben an der Quelle gefüllt hatten.

Der dicke Mann erschien noch halb betäubt von dem donnernden Schnarchen, das er sicherlich in der Nacht von sich gegeben hatte; er schloß von Zeit zu Zeit halb die vom Schlaf noch verschleierten Augen in seinem feisten, zufriedenen Mönchsgesicht. Der hagere Junge dagegen spürte die Kälte der frischen Morgenluft; von Zeit zu Zeit lief ihm sogar ein Schauder über den Rücken.

Weder der eine noch der andere konnte sich dazu entschließen zu trinken, und es schien, als wartete jeder darauf, dem Beispiel des anderen folgen zu können. Schließlich, nach dem ersten Schluck, sahen sich beide mit von demselben Ausdruck des Ekels verzogenen Gesichtern an.

“Die Leber, was?” fragte plötzlich leise der dicke Mann den jungen und schüttelte sich. “So kleine Leberkoliken, was? Sie sind natürlich verheiratet, denke ich mir…”

“Nein, weshalb?” fragte der junge Mann zurück, während er qualvoll sein Gesicht in Falten legte, die ein Lächeln ausdrücken wollten.

“Na, es schien mir so, so ins Blaue hinein geraten”, seufzte der andere. “Aber wenn Sie keine Frau haben, können Sie ganz ruhig sein. Dann werden Sie gesund!”

Der junge Mann lächelte wieder wie vorhin.

“Leiden Sie vielleicht an der Leber?” fragte er dann spitz.

“Nein, nein, keine Frau mehr, ich habe keine mehr!”, beeilte sich der dicke Mann in höchstem Ernst zu antworten. “Ich war leberleidend; aber Gott sei Dank habe ich mich von meiner Frau befreit; ich bin geheilt. Ich komme nun schon seit dreizehn Jahren hierher, aus Dankbarkeit. Entschuldigen Sie, wann sind Sie angekommen?”

“Gestern abend um sechs”, sagte der junge Mann.

“Ach, deshalb”, rief der andere, während er die Augen halb schloß und den massigen Kopf hin und her wiegte. “Wären Sie am Morgen gekommen, würden Sie mich bereits kennen.”

“Ich… ich würde Sie kennen?”

“Aber sicher, so wie mich alle hier kennen. Ich bin eine Berühmtheit! Sehen Sie, auf der Piazza dell’Arena, in allen Hotels, in allen Pensionen, im Club, im Caffè da Pedoca, in der Apotheke spricht man seit dreizehn Jahren hier Saison für Saison bloß von mir. Ich weiß es und habe meine Freude daran und komme eben deshalb immer wieder her. Wo sind Sie abgestiegen? Bei Rori? Bravo. Nun, seien Sie ganz sicher, noch heute mittag bei Tisch werden sie Ihnen bei Rori meine Geschichte erzählen. Erlauben Sie, daß ich ihnen zuvorkomme und sie Ihnen selbst erzähle, in einem Stück.”

Während er das sagte, stemmte er sich mühevoll in die Höhe und ging zu der Bank des jungen Mannes hinüber, der ihm mit seinem gelben, vor Freude ganz verkniffenen Gesicht Platz machte.

– Zu allererst, damit wir uns gleich verstehen, hier nennt man mich den Gatten der Frau Doktor. In Wirklichkeit heiße ich Cambiè. Mit Vornamen Bernardo. Bernardone, weil ich so dick bin. Trinken Sie. Ich trinke auch.

Sie tranken, zogen wieder eine Grimasse des Ekels, die sie sofort in ein Lächeln zu verwandeln suchten, als sie einander freundlich ansahen. Dann setzte Cambiè fort:

– Sie sind noch ganz jung und ernsthaft ein bißchen leidend. Was ich Ihnen hier an grauenhaften Dingen erzählen werde, kann Ihnen mehr von Nutzen sein als dieses scheuß­liche Wasser hier, das zwar bitter ist, dafür aber – glauben Sie mir das – gar nichts bewirkt. Sie geben es uns zu trinken, in jedem Sinn tun sie das, und wir trinken es, weil es scheußlich schmeckt. Würde es gut schmecken… Aber nein, genug; sie machen ja eine Kur, Sie müssen Vertrauen haben.

Sie müssen nämlich wissen, wenn ich das Wort Ehe hörte, dann kam mir – mit Verlaub gesagt – der Magen hoch, mir war geradezu… geradezu zum… jawohl, mein Herr. Ich sah einen Hochzeitszug… ich erfuhr, daß ein Freund heiraten würde… derselbe Effekt. Aber was wollen Sie schon von uns unglücklichen Sterblichen? Bildet sich ein Fleckchen in der Sonne? Zusammenbrüche und Katastrophen. Wacht ein König mit belegter Zunge auf? Kriege, Mord und Totschlag ohne Ende. Beginnt ein Vulkan kurz zu schluchzen? Erdbeben, Naturkatastrophen, Hekatomben von Blut…

In Neapel brach zu meiner Zeit die Cholera aus. Die große Choleraepidemie von vor rund zwanzig Jahren, von der Sie, wenn Sie sich auch nicht erinnern, wohl doch reden gehört haben.

Mein Vater, ein kleiner Angestellter, hielt sich – bei dem liebenswerten Schicksal, das ihn stets verfolgte – zu diesem Zeitpunkt natürlich gerade in Neapel auf. Ich war schon dreißig Jahre alt, hatte eine gute Anstellung gefunden und eine Junggesellenwohnung gemietet, nicht weit weg von zu Hause. Ich lebte bei der Familie und dort hatte ich auch eine Freundin, die mir einfach so zugewachsen war, als wäre sie vom Himmel gefallen.

Carlotta. So hieß sie. Sie war die Tochter eines… na, da ist nichts Schlimmes dabei, wissen Sie! Ein Beruf wie jeder andere – die Tochter eines Wucherers. Ein ehemaliger Priester war er.

Sie war wegen Streitereien mit ihrer Stiefmutter und mit einem jüngeren Bruder, der bereits ein ausgewachsener Gauner war, von zu Hause weggelaufen; aber diese Geschichte werde ich Ihnen ersparen. Sie schien ein braves Mädchen zu sein, und vielleicht war sie das damals auch; aber Sie werden verstehen, da ich sie liebte, dachte ich da nicht viel drüber nach.

Entschuldigen Sie, sind Sie vielleicht religiös? Soso? Wohl eher nein als ja. Wie ich. Meine Mutter hingegen, mein lieber Herr, na, die war mehr als religiös. Die arme Frau, sie litt entsetzlich unter meiner Beziehung, die sie für sündhaft hielt. Sie wußte, daß dieses Mädchen, bevor sie die Meine wurde, keine anderen Männer gehabt hatte. Als nun die Cholera ausbrach, war sie, entsetzt über das Massensterben, fest überzeugt, wir seien alle dem Tod geweiht, und ich zuallererst, da ich im Stand der Todsünde lebte. Und so verlangte sie mir das Opfer ab, dieses Mädchen zu heiraten, sei es auch nur in der Kirche, um so den göttlichen Zorn zu besänftigen.

Glauben Sie mir, ich hätte es trotzdem nicht getan, wenn Carlotta nicht von der Seuche befallen worden wäre. Ich mußte ihr doch wenigstens die Seele retten; so hatte ich es meiner Mutter versprochen. Ich lief also einen Priester holen und heiratete sie. Aber was war da im Spiel? Eine göttliche Hand? Ein Wunder? Sie schien schon halb hinüber, und plötzlich wurde sie gesund.

Meine Mutter bestand darauf, obwohl ihr das große Zittern kam, aus Nächstenliebe, ja, aus Opfergeist an der Zeremonie teilzunehmen und dann am Bett der Kranken auszuharren.

Es schien, als wäre die Cholera nur meinetwegen nach Neapel gekommen, um mich für die Todsünde zu bestrafen, und als sollte sie mit Carlottas Genesung vorübergehen, so sehr bemühte sich meine Mutter, mit solcher Inbrunst widmete sie sich der Aufgabe, sie gesundzupflegen. Und kaum hatte sie sie gerettet und sah, daß dort in diesem Zimmerchen die Genesende jede Bequemlichkeit entbehren mußte, da bestand sie darauf, sie auch noch zu sich nach Hause zu nehmen, so sehr ich mich auch dagegen wehrte.

Sie werden verstehen, sobald sie einmal in mein Haus gekommen war, konnte Carlotta es nur als meine legitime Ehefrau wieder verlassen, und das tat sie auch kurze Zeit später, kaum daß das große Sterben aufgehört hatte.

Na, dann wollen wir wieder einmal trinken, lieber Herr!

Gott sei Dank waren Carlotta während der Epidemie Vater, Mutter und Brüder gestorben. Ein Glück und ein Unglück zugleich, denn als einzige Überlebende der Familie erbte sie achtunddreißig oder vierzigtausend Lire, die Frucht des edlen Handwerks, das ihr Vater betrieben hatte.

Nun, als Ehefrau und mit einer Mitgift, wie sah sie da die Sache, lieber Herr? Sie war von einem Tag zum anderen wie ausgewechselt.

Nun hören Sie zu. Wissen Sie, daß ich so einen gewissen boshaften Geist im Leibe habe… wie soll ich ihn nennen? phi-… philosophenhaft ist er, das mag ihnen seltsam erscheinen; aber lassen Sie mich erzählen.

Glauben Sie, daß es nur zwei Geschlechter gibt, das männliche und das weibliche?

Nein, mein Herr.

Die Ehefrauen sind ein Geschlecht für sich. Die Ehemänner auch.

Und was die Geschlechter betrifft, da gewinnt die Frau durch die Ehe immer. Sie macht einen großen Schritt vorwärts! Sie erhält nämlich so viel Anteil am männlichen Geschlecht, wie der Mann notwendigerweise davon aufgeben muß. Und aufgeben muß er viel, glauben Sie mir das.

Wenn ich einmal auf die traurige Idee verfiele, eine vernünftige Grammatik zu erstellen, wie ich sie nenne, würde ich zur Regel erheben, daß es der Ehefrau und infolgedessen die Ehemann heißen muß.

Sie lachen? Aber für die Ehefrau, mein lieber Herr, für die Ehefrau ist der Ehemann wirklich kein Mann mehr. Sie bemüht sich ja nicht einmal mehr, ihm zu gefallen.

“Mit dir macht’s keinen Spaß mehr”, denkt die Ehefrau. “Du kennst mich ja schon.”

Und wenn der Ehemann wirklich so einfältig ist, sich von neuem zu ereifern, etwa, wenn er sie zum Beispiel wie eine Teufelin im Bett liegen sieht, mit Lockenwicklern in den Haaren und dicht bestrichenem Gesicht, dann geht es gleich los:

“Aber das tue ich doch für dich!”, ist sie imstande zu antworten.

“Für mich?”

“Sicher. Damit du keine schlechte Figur machst. Wärst du denn froh, wenn die Leute, wenn sie dich auf der Straße sehen, sagen würden: ‘Ach, schau einmal, was für eine Frau sich dieser arme Kerl ausgesucht hat!'”

Und der Ehemann, der – das versichere ich Ihnen – kein Mann mehr ist, der schweigt; und dabei müßte er ihr ins Gesicht schreien:

“Aber das sage ich mir doch selbst, meine Liebe, was für eine Frau ich mir ausgesucht habe, wenn ich dich so ansehe, jetzt, wo du neben mir liegst! Ach, du zeigst dich also deshalb mir jetzt zu Hause und im Bett häßlich, damit die anderen dann auf der Straße ausrufen können: ‘Ach, schau einmal, was für eine hübsche Frau dieser arme Kerl da hat!’? Und darum sollten sie mich auch noch beneiden? Na, ich danke, ich danke vielmals, meine Liebe, für diesen Neid mir gegenüber, der sich natürlich in ein Begehren dir gegenüber verwandelt. Du willst begehrt sein, damit ich beneidet werde? Was du doch für ein guter Mensch bist! Aber ich bin ein noch besserer Mensch, weil ich dich geheiratet habe.”

Und der Dialog ließe sich noch fortführen. Denn es könnte ja der Fall eintreten, wissen Sie? – der Fall, daß die Ehefrau sogar die Unverfrorenheit besäße, den Ehemann ganz unschuldig zu fragen, ob sie, geschminkt und aufgeputzt zum Spaziergang, seiner Meinung nach gut aussähe.

Der Ehemann müßte ihr darauf antworten:

“Ja, weißt du, Liebe, die Geschmäcker sind doch sehr verschieden. Mir persönlich gefällt, wie ich dir schon gesagt habe, diese Frisur nicht besonders. Wem willst du nun gefallen? Das müßtest du mir sagen, damit ich dir eine Antwort geben kann. Keinem? Wirklich keinem? Ja, dann sei froh, wenn schon keinem, dann versuch doch wenigstens deinem Mann zu gefallen, das ist dann wenigstens einer und nicht keiner!”

Mein lieber Herr, bei einer solchen Antwort würde die Ehefrau ihren Mann fast mitleidig anschauen, und dann würde sie verächtlich mit den Achseln zucken, als wollte sie sagen: “Was hast denn du damit zu schaffen?”

Und sie hätte recht. Die Frauen können nicht darauf verzichten: instinktiv wollen sie gefallen. Für sie ist es einfach eine Notwendigkeit, begehrt zu werden.

Nun, das werden Sie verstehen, eine Ehemann kann seine Ehefrau, die er Tag und Nacht um sich hat, nicht mehr begehren. Ich meine: Er kann sie nicht so begehren, wie sie begehrt werden möchte.

Denn so wie die Ehefrau im Ehemann nicht mehr den Mann sieht, so sieht auch der Ehemann in der Ehefrau nach einer gewissen Zeit nicht mehr die Frau.

Der Mann, der von Natur aus eher zum Philosophieren neigt, geht darüber hinweg; die Frau hingegen ist darüber gekränkt. Und deshalb wird ihr der Ehemann bald lästig und oft geradezu unerträglich.

Sie muß für das eigene Wohlergehen Sorge tragen, der Ehemann nicht.

Aber was immer er auch täte, glauben Sie mir, nichts wäre ihr je recht, denn die Liebe, diese besondere Liebe, die sie braucht, kann ihr der Ehemann, einfach weil er ihr Ehemann ist, nicht mehr geben. Mehr als Liebe ist es eine gewisse Aura von Bewunderung, von der sie umgeben sein will. Aber jetzt versuchen Sie sie einmal zu bewundern, wenn sie im Haus mit Lockenwicklern, ohne Mieder, in Pantoffeln und, sagen wir, heute mit Bauchweh und morgen mit Zahnweh herumläuft. Diese gewisse Aura kann aus den Blicken der Männer entstehen, die nicht wissen, und deren Aufmerksamkeit sie, ohne daß es schien, mit besonders raffinierter List, auf sich zu ziehen und festzuhalten verstanden hat, um sich an ihnen in wunderbarer Weise zu berauschen. Wenn sie eine anständige Ehefrau ist, wird ihr das genügen. Ich spreche jetzt von den anständigen Ehefrauen, verstehen wir uns recht, ja geradezu von den makellosen Ehefrauen. Von den anderen zahlt sich’s gar nicht mehr aus zu sprechen.

Erlauben Sie mir noch eine weitere kleine Überlegung. Wir Männer haben die Angewohnheit zu sagen, die Frau wäre ein unbegreifliches Wesen. Mein lieber Herr, die Frau ist ganz im Gegenteil genauso wie wir, aber sie kann es weder zeigen noch aussprechen, denn sie weiß vor allen Dingen, daß es ihr die Gesellschaft nicht gestattet und ihr als Schuld anrechnen würde, was sie dagegen beim Mann ganz natürlich findet. Und deshalb weiß sie, daß es den Männern keine Freude machen würde, würde sie es zeigen und aussprechen. Damit haben wir das Rätsel erklärt. Wer wie ich das Pech gehabt hat, an eine Frau zu geraten, die sich kein Blatt vor den Mund nimmt, der weiß das sehr gut.

Und jetzt wollen wir noch einen Schluck trinken. Nur Mut!

Am Beginn war sie nicht so, die Carlotta. Sie wurde erst nach der Hochzeit so, das heißt, sobald sie sich wohl etabliert fühlte und bemerkte, daß ich natürlich begann, in ihr nicht nur das Vergnügen, sondern auch dieses überaus häßliche Ding zu sehen, das wir Pflicht nennen.

Ich hatte sie zu achten, nicht wahr? Sie war schließlich meine Frau. Nun, vielleicht wollte sie nicht geachtet werden. Wer weiß weshalb, es ging ihr jedenfalls schrecklich auf die Nerven, mich von einem Tag auf den anderen zum exemplarischen Ehemann werden zu sehen.

Für uns beide begann eine wahre Hölle. Sie ständig brummend, widerborstig, ruhelos, ich dagegen geduldig, ein wenig aus Angst, ein wenig aus dem Bewußtsein heraus, die schlimmste aller Eseleien begangen zu haben und die Folgen derselben zu beklagen zu müssen. Ich lief ihr nach wie ein Schoßhündchen. Und damit machte ich es noch schlimmer! So sehr ich mir auch den Kopf zermarterte, es gelang mir nicht zu erraten, was zum Teufel meine Frau wollte. Aber ich hätte den sehen wollen, der es zu erraten vermochte! Wissen Sie, was sie wollte? Sie wäre gerne als Mann auf die Welt gekommen, meine Frau! Und sie ließ ihre Wut darüber an mir aus, daß sie stattdessen als Frau geboren war. “Als Mann”, sagte sie, “und meinetwegen einäugig!”

Eines Tages fragte ich sie: “Na, laß mal hören, was wäre aus dir geworden, wenn du als Mann auf die Welt gekommen wärst?”

Und sie antwortete, während sie die Augen weit aufriß: “Ein Verbrecher!”

“Bravo!”

“Und Ehefrau, nichts da, weißt du? Ich hätte nie eine Frau genommen.”

“Danke, Liebe.”

“Ach, da kannst du ganz sicher sein!”

“Und du hättest dich bloß amüsiert? Glaubst du denn, daß man sich mit den Frauen einfach bloß amüsieren darf?”

Meine Frau sah mir ganz tief in die Augen: “Mich fragst du das?” sagte sie dann. “Weißt du das denn nicht? Ich hätte auch deshalb nicht geheiratet, um nicht aus einer armen Frau eine Gefangene zu machen.”

“Ach”, rief ich. “Fühlst du dich vielleicht als Gefangene?”

Und sie: “Ob ich mich als Gefangene fühle? Ja, was bin ich denn? Was bin ich denn immer schon gewesen, seit ich lebe? Ich kenne ja nur dich. Wann habe ich je mein Vergnügen gehabt?”

“Hättest du gerne andere gekannt?”

“Na sicher! Genauso wie du, der du so viele vorher und wer weiß wie viele nachher gekannt hast!”

Mein lieber Herr, merken Sie sich also das eine sehr gut: eine Frau empfindet genauso wie wir Begierde. Sie sehen zum Beispiel eine schöne Frau, folgen ihr mit Ihren Blicken, stellen sie sich in ihrer ganzen Schönheit vor und umarmen sie in Gedanken, natürlich ohne Ihrer Frau etwas davon zu sagen, die neben Ihnen geht? Nun, in der Zwischenzeit sieht Ihre Frau einen schönen Mann, folgt ihm mit ihren Blicken, stellt ihn sich in seiner ganzen Schönheit vor und umarmt ihn in Gedanken, natürlich ohne Ihnen etwas davon zu sagen.

Da ist gar nichts Außergewöhnliches dabei; aber glauben Sie mir, es ist gar nicht angenehm, zu bedenken, daß diese leicht einsehbare und allgemein verbreitete Tatsache auch auf die eigene Frau zutrifft, die mit ihrem Körper, nicht aber mit der Seele Ihre Gefangene ist. Und erst der Körper! Sagen Sie selbst: Haben wir Männer nicht das Gefühl, daß wir bei gegebener Gelegenheit nicht widerstehen könnten? Nun, denken Sie einmal, daß dasselbe auch auf die Frau zutrifft. Sie fallen, sie fallen um, daß es eine Freude ist, mit derselben Leichtigkeit, wenn es ihnen geschieht, wenn sich also ein entschlossener Mann findet, zu dem sie Ver­trauen haben können. Das hat mir meine Frau deutlich zu verstehen gegeben, natürlich indem sie von den anderen Frauen sprach.

Und damit komme ich zu meinem Fall.

Natürlich wurde ich nach einem Jahr Ehe leberleidend.

Sechs Jahre hindurch sinnlose Behandlungen, die meinen armen Körper zerstörten, bis er sich in einem so erbarmungswürdigen Zustand befand, daß sogar die Leute, die an derselben Krankheit litten, ihn bemitleideten.

Das Heilmittel sollte ich hier finden.

Ich kam mit meiner Frau hierher, und in den ersten Tagen wohnte ich im Rori, so wie Sie jetzt. Ich bestellte mir gleich nach der Ankunft einen Arzt, der mich untersuchen und verordnen sollte, wie viele Gläser am Tag ich zu trinken hätte, und ob ich eher Duschen oder Bäder mit Schwefelwasser nehmen sollte.

Es erschien ein hübscher junger Mann, braunhaarig, groß und kräftig, mit zackigem Auftreten, ganz in Schwarz gekleidet. Wenig später erfuhr ich, daß er tatsächlich Militärarzt gewesen war, genauer Oberleutnant-Arzt; daß er in Rovigo ein Verhältnis mit der Tochter eines Druckers gehabt hatte; daß sie ihm eine Tochter geboren hatte, und daß er, nun zur Heirat gezwungen, den Dienst quittiert hatte und als Gemeindearzt hierher gezogen war. Acht Monate nach diesem großen Opfer waren ihm, eine nach der anderen, Frau und Tochter gestorben. Nun waren schon an die drei Jahre seit diesem doppelten Unglück verstrichen, aber er kleidete sich immer noch in Schwarz wie ein wunderschöner Rabe.

Natürlich hatte er ungeheuren Erfolg mit dieser Geschichte, daß er seine Militärkarriere aus Liebe geopfert habe und vom Schicksal so schlecht dafür belohnt worden sei; mit diesen beiden schrecklichen Unglücksfällen, deren Spuren noch immer in diesem Gesicht eingegraben waren, und mit seiner stolzen Haltung, als wäre er Karl der Große persönlich. Alle Frauen, hätte man sie gelassen, hätten es am liebsten selbst übernommen, den armen Mann zu trösten. Er wußte das und zeigte sich abweisend.

Er kam also zu mir, untersuchte mich sehr gründlich, klopfte mich überall ab, dann wiederholte er mehr oder minder das, was mir schon so viele andere Ärzte gesagt hatten, und zuletzt verschrieb er mir die Kur: drei halbe Gläser, diese halbgroßen, in den ersten Tagen, danach drei ganze, und immer einen Tag ein Bad, einen Tag eine Dusche. Er war schon im Gehen, als er so tat, als bemerke er jetzt erst die Anwesenheit meiner Frau.

“Die gnädige Frau auch?”, fragte er und betrachtete sie kühl.

“Nein, nein”, wehrte meine Frau sofort, indem die das Gesicht in die Länge und die Augenbrauen bis zum Haaransatz hinauf zog.

“Trotzdem, gestatten Sie?”, erwiderte er.

Er trat zu ihr hin, hob ihr behutsam das Kinn mit einer Hand in die Höhe und strich ihr mit dem Zeigefinger der anderen über das Augenlid, fast ohne sie zu berühren.

“Ein bißchen anämisch”, sagte er.

Meine Frau sah mich an, totenbleich, als hätte diese leichthin ausgesprochene Diagnose sie auf der Stelle tatsächlich anämisch gemacht. Und mit einem nervösen kleinen Lachen auf den Lippen zuckte sie die Achseln und sagte: “Aber ich spüre doch gar nichts…”

Der Arzt verbeugte sich mit großem Ernst: “Umso besser.”

Und er verließ würdevoll das Zimmer.

Ob es nun das Wasser war, oder das Bad, oder die Dusche, oder vielmehr, wie ich glaube, die gute Luft hier und der herrliche Blick auf die toskanische Landschaft, jedenfalls fühlte ich mich sofort besser, und zwar so sehr, daß ich beschloß, einen Monat oder auch zwei zu bleiben. Um mehr Freiheit zu genießen, mietete ich eine kleine Wohnung in der Nähe der Pension, ein bißchen weiter unten, bei Coli, mit einem kleinen Balkon, von dem aus man das ganze Tal mit den zwei Seen von Chiusi und von Montepulciano überblickt.

Aber – ich weiß nicht, ob Sie das schon geahnt haben – nun begann meine Frau sich krank zu fühlen.

Sie sprach nicht von Anämie, weil der Doktor davon gesprochen hatte; sie sagte, sie fühle eine gewisse Müdigkeit am Herzen und so etwas wie ein Gewicht auf der Brust, das sie am Atmen hinderte.

Und daraufhin sagte ich, mit dem unschuldigsten Ausdruck, dessen ich fähig war: “Willst du dich nicht auch untersuchen lassen, Liebe?”

Sie wehrte sich wütend dagegen, wie ich es erwartet hatte, und lehnte meinen Vorschlag ab.

Natürlich verschlimmerte sich ihre Krankheit von Tag zu Tag, je mehr sie sich in ihrer Ablehnung versteifte. Ich blieb hart und sprach zu ihr nicht mehr davon. Bis sie selbst eines Tages nicht mehr konnte und mir sagte, sie wolle sich untersuchen lassen, aber nicht von diesem Arzt, nein, ganz entschieden nein; von dem anderen Gemeindearzt wollte sie untersucht werden (damals gab es hier zwei), von Doktor Berri, einem mürrischen, asthmatischen alten Mann, fast blind, schon halb im Ruhestand – nun ist er ganz im Ruhestand -, nicht mehr von dieser Welt.

“Ach hör doch auf!”, rief ich. “Wer ruft denn noch den Doktor Berri? Und dann wäre es eine unverdiente Taktlosigkeit gegenüber dem Doktor Loero, der sich immer so um uns bemüht hat und immer so höflich gewesen ist!”

Tatsächlich kam Doktor Loero jeden Tag, wenn er mich mit meiner Frau hier bei den Thermen aus dem Wagen steigen sah, herbei, in dieser stolzen und kummervollen Haltung; er gratulierte mir zu der raschen Besserung, begleitete mich zu dem Brunnen und dann auf und ab über diese Parkwege,wobei er es nicht an den pflichtschuldigen Aufmerksamkeiten meiner Frau gegenüber fehlen ließ, wenngleich er sich in den ersten Tagen wenig um sie kümmerte, die natürlich im Stillen darüber vor Wut platzte.

Seit einer Woche hatten sie jedoch begonnen, miteinander über die ewige Frage der Männer und der Frauen zu streiten, über den anmaßenden Mann und die Frau, die stets das Opfer ist, über die ungerechte Gesellschaft und so weiter und so fort.

Glauben Sie mir, mein Herr, ich kann dieses Geschwätz schon nicht mehr hören. In sieben Jahren Ehe ist zwischen meiner Frau und mir über nichts anderes gesprochen worden.

Ich muß Ihnen jedoch gestehen, daß ich in dieser Woche innerlich frohlockte, als ich Doktor Loero genau dieselben Argumente vortragen hörte wie ich es zu tun pflegte, und das mit dem Salz und Pfeffer der wissenschaftlichen Autorität. Mich pflegte meine Frau mit Beschimpfungen zu überschütten. Bei dem Doktor Loero mußte sie dagegen die Bremse des Anstands betätigen; aber die Galle, die sie nicht ausspucken konnte, die schmierte sie doch fein säuberlich auf ihre Worte.

Ich hoffte, daß ihr so ihre Herzkrankheit vergehen würde. Aber woher denn! Wie ich Ihnen sagte: sie wurde von Tag zu Tag schlimmer. Und jetzt sehen Sie einmal, was für eine miese Rolle man bisweilen als Ehemann zu spielen hat. Ich wußte sehr gut, daß sie von Doktor Loero untersucht werden wollte, und daß die Abneigung die dieser ihr einflößte, ganz und gar Komödie war, und auch das Verlangen, von dem senilen, asthmatischen Alten untersucht zu werden, eine Komödie wie die ganze Herzkrankheit. Und doch mußte ich so tun, als würde ich ganz ernsthaft an alle drei Dinge glauben und ein ganzes Hemd durchschwitzen, um sie zu dem zu überreden, was sie sich im Grunde ihres Herzens wünschte.

Mein lieber Herr, als meine Frau sich – natürlich ohne Korsett – auf dem Bett ausstreckte und er, der Doktor, ihr in die Augen sah, als er sich herunterbeugte, um das Ohr auf ihre Brust zu legen, da sah ich, wie sie beinahe ohnmächtig wurde, beinahe zusammenbrach; ich sah in ihren Augen und auf ihrem Gesicht eine solche Erregung… ein solches Zittern, daß… Sie verstehen mich: ich wußte, woran ich war und konnte nicht fehlgehen.

Das mochte reichen, nicht wahr? Eine Ehefrau bleibt ganz und gar ehrbar, untadelig, rein, nach einer Visite wie dieser; eine ärztliche Untersuchung, da kann man gar nichts sagen, im Beisein ihres Mannes noch dazu. Na also! Wozu, frage ich, hätte ich mir dann ins Gesicht sagen sollen, was ich im Grunde meines Herzens längst wußte, was ich mit eigenen Augen gesehen und fast mit den Händen gegriffen hatte?

Los, los. Nur Mut. Trinken wir wieder. Trinken wir.

Eines Abends stand ich auf dem Balkon und betrachtete das wunderbare Schauspiel des breiten Tales im Mondlicht.

Meine Frau war schon zu Bett gegangen.

Sie sehen mich jetzt so wohlbeleibt und glauben vielleicht, mich könnte ein Naturschauspiel nicht rühren. Aber glauben Sie mir, ich habe eine zerbrechliche, kleine und zarte Seele. Ein Seelchen mit blonden Haaren habe ich, mit einem ganz süßen Gesichtlein, durchscheinend und zugespitzt, mit himmelblauen Augen dazu. Mit einem Wort, ein Seelchen, das wie eine kleine Engländerin aussieht, wenn es sich in der Stille, in der Einsamkeit, aus den Fenstern dieser häßlichen Ochsenaugen in meinem Gesicht lehnt, und das sich vom Anblick des Mondes und dem Zirpen der unzähligen Grillen ringsumher unsäglich rühren läßt.

Wie die Menschen untertags in den Städten, so geben die Grillen des Nachts auf dem Lande keine Ruhe. Ein schöner Beruf muß das sein, der einer Grille!

“Was tust du?”

“Ich singe.”

“Und weshalb singst du?”

Das weiß ja nicht einmal die Grille selbst. Und alle Sterne beben auf dem Firmament. Sie schauen sie an. Muß auch ein schöner Beruf sein, der eines Sterns! Was machen die schon da oben? Nichts. Auch sie schauen ins Leere und es sieht so aus, als würde ihnen darob ununterbrochen ein Schauder über die Haut laufen. Wenn Sie wüßten, wie mir da die Eule gefällt, die inmitten all dieser Süße plötzlich in der Ferne ängstlich zu schluchzen beginnt. Sie weint vor so viel Süße.

Genug. Ich betrachtete also voller Bewegung, wie ich Ihnen eben sagte, dieses Schauspiel, aber ich fühlte auch schon ein wenig die abendliche Kühle (es war elf Uhr vorbei) und war eben im Begriff, mich zurückzuziehen, als ich es laut und insistent am Eingangstor klopfen hörte. Wer konnte das sein, um diese Zeit?

Es war Doktor Loero.

In einem Zustand, mein Herr, daß sogar ein Stein mit ihm Mitleid hätte haben müssen.

Stockbesoffen.

Es waren nämlich aus Florenz, aus Perugia und aus Rom fünf oder sechs Ärzte der Wasserkur wegen in den Ort gekommen, und er hatte es für angezeigt gehalten, gemeinsam mit dem Apotheker ein Abendessen für die Kollegen zu geben, im Grünen-Kreuz-Krankenhaus hinter der Kollegienkirche, ganz in der Nähe von Rori.

Na, da ging’s lustig zu, wie Sie sich vorstellen können, ein Abendessen im Spital! Und von Wasserkur war natürlich nicht die Rede! Sie hatten sich allesamt besoffen wie… na, sagen wir nicht wie die Schweine, weil die armen Schweine gerade diese Gewohnheit nun tatsächlich nicht haben.

Was war ihm da in seiner Weinseligkeit nur für eine Idee gekommen, mich aufzusuchen und zu stören, der ich in dieser Nacht, wie ich Ihnen eben sagte, ganz Mondschein war?

Er schwankte und ich mußte ihn bis zum Balkon stützen. Dort umarmte er mich ganz fest und sagte, daß er mich sehr gern habe, wie einen Bruder, und daß er den ganzen Abend hindurch mit seinen Kollegen von mir gesprochen habe, von meiner kaputten Leber und meinem kaputten Magen, die ihm am Herzen lägen, so sehr am Herzen, daß er, als er an meiner Türe vorüberkam, es nicht habe verabsäumen wollen, mir einen kleinen Besuch abzustatten, weil er fürchte, am Tag darauf nicht bei den Thermen erscheinen zu können, weil – das hätte man nicht geglaubt, hm? – weil er nämlich tatsächlich ein bißchen was getrunken hatte. Natürlich dankte ich ihm von Herzen, was meinen Sie denn, und mahnte ihn, er solle doch nach Hause gehen, es wäre schon spät… Nichts! Er wollte einen Stuhl, um sich auf den Balkon zu setzen und begann mir von meiner Frau zu sprechen, die ihm gar so gut gefiele, ich solle sie doch aufwecken gehen, damit sie ihm ein wenig Gesellschaft leiste, die Signora Carlottina, ach, die würde schon mitmachen! Und wie! Und wie! Eine hübsche, scheue Stute, die ausschlug, aber aus Liebe, um sich Liebkosungen zu holen… Und in dieser Tonart ging es weiter, während er immer wieder grinste und mit den Augen, die ihm von selbst zufielen, versuchte, so ein gewisses überlegenes Zwinkern zustandezubringen.

Sagen Sie mir selbst: Was sollte ich mit ihm tun, in diesem Zustand? Einen Betrunkenen, der nicht mehr stehen konnte, ohrfeigen? Meine Frau, die aufgewacht war, schrie mir drei oder viermal aus dem Schlafzimmer heraus wütend zu, ich solle das tun. Auch mir zuckte es geradezu in den Händen, ihn zu ohrfeigen. Aber wer weiß, wie dieser arme junge Mann, der in seiner Weinseligkeit jeden Sinn für soziale Umgangsformen und Erziehung verloren hatte und mir fröhlich die Wahrheit ins Gesicht schrie, auf eine Ohrfeige reagiert hätte. Ich packte ihn und zog ihn aus dem Stuhl hoch: ein wenig schütteln mußte ich ihn schon, aber er war drauf und dran, hinzufallen, und ich mußte mich bis zur Türe seines Zustandes erbarmen. Dort… ja, dort gab ich ihm dann einen kleinen Stoß, der ihn die Straße hinunterkollern ließ.

Als ich ins Schlafzimmer kam, fand ich meine Frau mit zu Berge stehenden Haaren, geradezu wie von Sinnen, vor. Sie war aufgestanden. Sie fiel mit den gräßlichsten Verwünschungen über mich her. Sie sagte, wäre ich ein anderer Mann gewesen, dann hätte ich auf diesem Verbrecher herumtrampeln und ihn vom Balkon hinunterstürzen müssen; ich aber sei nur ein papierener Wicht, der kein Blut in den Adern habe, der nicht einmal rot würde dabei, wenn er die Ehre seiner Frau nicht zu verteidigen vermochte, im Gegenteil, durchaus fähig zu katzbuckeln vor dem ersten, besten Dahergelaufenen, der…

Ich ließ sie nicht aussprechen. Ich hob eine Hand auf; ich schrie sie an, sie solle lieber achtgeben, die Ohrfeige, die ich dem Mann hätte geben müssen, wäre er nicht betrunken gewesen, die bekäme sie, wenn sie nicht gleich den Mund hielte. Natürlich hielt sie nicht den Mund, was glauben Sie! Von der Wut ging sie zum Hohn über. Ja, freilich sei es leicht für mich, bei ihr den starken Mann zu spielen, eine Frau zu ohrfeigen, nachdem ich einen, der mich in meinem eigenen Haus beleidigen gekommen war, freundlich empfangen und mit den gebührenden Ehrbezeugungen bis zur Türe begleitet hatte. Aber warum hatte ich sie denn eigentlich nicht gleich geweckt? Mehr noch, warum hatte ich den Mann denn nicht zu ihr ins Schlafzimmer geführt und ihn freundlich gebeten, sich zu ihr zu legen?

“Du wirst ihn fordern!” schrie sie schließlich außer sich. “Morgen wirst du ihn fordern, und wehe dir, wenn du es nicht tust!”

Wenn man sich gewisse Dinge von einer Frau sagen lassen muß, dann bäumt sich jeder Mann auf. Ich hatte mich bereits ausgekleidet und zu Bett gelegt. Ich sagte ihr, sie sollte endlich aufhören und mich in Ruhe schlafen lassen. Ich würde niemanden fordern, schon deshalb nicht, um ihr nicht diese Freude zu machen.

Aber in der Nacht dachte ich im Stillen lange darüber nach. Ich verstand und ich verstehe bis heute nichts von Ehrensachen: ob zum Beispiel ein Ehrenmann die Beleidigung und Provokation von einem Betrunkenen, der nicht weiß, was er redet, tatsächlich aufgreifen muß. Am nächsten Morgen wollte ich schon darüber den Rat eines Majors im Ruhestand einholen, den ich bei den Thermen kennengelernt hatte, als derselbe Major in Begleitung eines anderen Herren aus dem Ort im Namen Doktor Loeros von mir Satisfaktion verlangte. Tatsächlich! Wegen der Form, in der ich ihn gestern abend vor die Tür gesetzt hatte. Es schien, als habe er sich bei meinem kleinen Stoß und dem darauffolgenden Fall die Nase aufgeschürft.

“Aber er war doch betrunken!”, schrie ich diesen Herren ins Gesicht.

Na, umso ärger. Dann hätte ich doch besonders vorsichtig sein müssen. Ich, verstehen Sie? Und dabei war es geradezu ein Wunder, daß meine Frau mich nicht dafür aufgefressen hat, daß ich ihn nicht vom Balkon geworfen hatte!

Genug. Ich will sehen, daß ich rasch zu einem Ende komme. Ich nahm die Forderung an. Aber meine Frau lachte mir höhnisch ins Gesicht und begann auf der Stelle ihre Sachen zu packen. Sie wollte sofort abreisen; abreisen, ohne den Ausgang des Duells abzuwarten, obwohl sie wußte, daß dafür die allerschwersten Bedingungen vereinbart worden waren.

Da ich mich nun schon einmal aufs Eis gewagt hatte, wollte ich tanzen. Er diktierte mir die Bedingungen: auf Pistolen. Sehr gut! Aber dann verlangte ich dafür, daß auf fünfzehn Schritt Entfernung geschossen würde. Und ich schrieb einen Brief, am Vorabend des Duells: jedesmal, wenn ich den heute wieder lese, sterbe ich vor Lachen . Sie können sich nicht vorstellen, was für Blödheiten einem armen Menschen in einer solchen Lage durch den Kopf gehen.

Ich hatte nie mit Waffen zu tun gehabt. Ich schwöre Ihnen, ich schloß instinktiv die Augen, als ich schoß. Das Duell fand oben in dem Buchenwäldchen statt. Die ersten beiden Schüsse gingen ins Leere; es war beim dritten… nein, der dritte ging auch daneben, es war beim vierten. Beim vierten Schuß also – sehen Sie mal, was der für einen harten Schädel hatte, der Doktor! – da sah die Kugel für mich hin und traf ihn genau in die Stirn, aber sie verletzte den Knochen nicht, sie fuhr unter der Kopfhaut hindurch und beim Nacken wieder heraus.

Im ersten Augenblick schien er tot zu sein. Wir liefen alle hinzu, auch ich, aber einer der Sekundanten riet mir, mich zu entfernen, den Wagen zu nehmen und über die Straße nach Chiusi zu fliehen.

Ich floh.

Am Tag danach erfuhr ich, wie es wirklich um ihn stand; und noch etwas anderes erfuhr ich, was mich zugleich mit ungeheurer Freude und mit Kummer erfüllte: Freude um meinetwillen, Kummer um meines Gegners willen, der sich nach einer Kugel im Kopf, wirklich nicht auch noch das verdient hatte, der arme Kerl.

Als er nämlich im Grünen-Kreuz-Krankenhaus wieder die Augen aufschlug, sah Doktor Loero ein wunderschönes Schauspiel vor sich: meine Frau, die an sein Bett geeilt war, um ihn zu pflegen!

Von der Verwundung war er in zwei Wochen wieder geheilt; von meiner Frau, lieber Herr, ist er bis heute nicht geheilt.

Gehen wir uns jetzt unser zweites Glas holen?

© Michael Rössner.

In Italiano – Acqua amara (1905)

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