Der Nagel – 1936

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Der Nagel
Bild aus dem Web

aus dem Italienischen von Michael Rössner

Der Nagel

Der Junge hat gestanden, daß er diesen Nagel da gefunden hatte, als er im Schwarzenviertel Harlem eine Straße überquerte. Es war ein großer, rostiger Nagel, der vielleicht von einem kurz zuvor über diese Straße gefahrenen Wagen heruntergefallen sein mochte.

Absichtlich heruntergefallen.

„Wie denn, absichtlich?“

Es nützt nichts, die Augen sperrangelweit aufzureißen oder im Sessel hochzufahren. Wenn man dem nicht Rechnung tragen wollte, und der Art, in der der Junge das sagte, ruhig, überzeugt, aber in den gläsernen Augen noch den Schrecken über die unverständliche und unerklärliche Sache festhaltend, die ihm widerfahren war, dann hatte es gar keinen Sinn, ihn weiter zu befragen.

Dieser Nagel lag dort, mitten auf der ausgestorbenen Straße, und er stach dort so sehr ins Auge, daß er in unwiderstehlicher Weise nicht bloß den Blick, sondern auch die Hand des zufällig Vorübergehenden anzog, der sich gezwungen sah, sich herabzubeugen, um ihn aufzuheben, ohne zu wissen, was er damit anfangen sollte, sei es auch nur, um ihn kurze Zeit später auf der Straße wieder wegzuwerfen.

Tatsächlich sagt der Junge, er habe nie daran gedacht, daß er ihn später verwenden könnte; daß er nicht einmal daran gedacht hatte, während er schon dabei war, ihn zu verwenden. Er hatte ihn in der Hand, weil er nicht anders konnte als ihn aufzuheben; aber da dachte er schon nicht mehr daran. Der Nagel war ja schon „ruhig geworden“ in seiner Hand (ja, so hat er gesagt, und allen ist es kalt den Rücken hinuntergelaufen, als sie ihn das sagen hörten), der Nagel war schon „ruhig geworden“ in seiner Hand, weil er ‑ wie er es gewollt hatte ‑ aufgehoben worden war.

Und so ‑ immer noch nach der Erzählung des Jungen ‑ hatten zwei Straßenmädchen, während er eben dabei war, aus der Straße, auf welcher er den Nagel aufgehoben hatte, in eine andere einzubiegen, hatten zwei Straßenmädchen also, die eine vielleicht vierzehn, die andere kaum acht Jahre alt, zu raufen begonnen. In Brand geraten in einem Feuerschein der untergehenden Sommersonne, wurden sie zu einem Knäuel aus Armen, aus Beinen, aus Lumpen und aus Haaren; und auf der Stelle hatte er sich ohne nachzudenken auf sie gestürzt, die Faust gehoben und den Nagel in den Kopf der kleineren der beiden gebohrt; dann, sogleich danach, in Wahrheit aber nach einer unendlich langen Zeit, als er sie tot daliegen sah, als wäre sie es immer schon gewesen, zu seinen Füßen ganz blutüberströmt zusammengesunken, war er inmitten des Entsetzens der herbeigelaufenen Leute wie betäubt zurückgeblieben.

Warum er die Kleine durchbohrt hatte und nicht die Große, das wußte er nicht zu sagen. Er kannte weder die eine noch die andere. Er hatte nicht einmal Zeit gehabt, ihnen ins Gesicht zu sehen. Er hatte bloß gesehen, daß die Große die Kleine an den Haaren an der Schläfe gepackt hatte, und daß diese Haare der Kleinen kupferrot waren, und eine ihrer Hände, krallenartig gekrümmt, im Gesicht der Großen, die ihr von unten gräßlich ein Auge nach oben drückte, so daß das gesamte Weiße des Auges zu sehen war, das fast aus der Höhle sprang.

Vielleicht war es wegen der Farbe der Haare gewesen, wegen dieses so scheußlich verschobenen Auges. Denn danach hatte man erfahren, daß die Große an der Sache schuld gewesen war, die der Kleinen einen Streich hatte spielen und dabei deren Schwächlichkeit ausnützen wollte, kränklich, wie das Mädchen nun einmal war, das sah man doch gleich beim Anblick ihres spitzen, ausgezehrten Gesichtchens, das dort auf dem Boden, inmitten der Blutlache, aussah wie aus Wachs, ein Jammer, dieses Näslein, dieses Mündchen, und all diese Sommersprossen dazu. Kein Zweifel, daß sie bei der Rauferei zu guter Letzt den Kürzeren gezogen hätte.

Und mit diesem Nagel hatte er sie getötet.

Nun, nach dem Verhör, lauscht er, gebeugt auf seinem Stuhl, mit einer düsteren Verwunderung in den Augen, die schmalen Hände auf den Knien, mit den Malen von Kratzern, die er sich vielleicht selbst zugefügt hat, ohne es auch nur zu bemerken. Er lauscht den Gründen, die die anderen sich ausdenken, um seine Tat zu erklären.

Seine Verwunderung gilt dem Umstand, daß es so viele sein können, so viele solche Gründe, während er nicht einmal einen einzigen zu sehen vermag; und alle scheinen wahr und einleuchtend, sowohl die, die für ihn als auch die, die gegen ihn sprechen.

Aber ja, auch ihm erscheinen sie wahr und einleuchtend, freilich nur wenn er sich dazu hinreißen läßt, sie als ein Konstrukt aus geistreichen Vermutungen und Eingebungen zu betrachten, das nicht eigentlich auf ihn und seine Tat bezogen werden kann; sonst nicht; ein paar würden ihn geradezu zum Lachen reizen, wenn ihn nicht die allgemeine Beklemmung zurückhalten würde, und noch etwas anderes, was man ihm dort vor die Augen hält, auf dem Tisch des Richters: der Nagel, dessen Rost einen noch ein wenig dunkleren Rotton angenommen hat; und noch etwas hält ihn zurück, das Schrecklichste von allem, etwas, das er im tiefsten Grund seines Herzens vor sich selbst verborgen hält, als müßte er sich dafür schämen. Aber es ist  keine Scham. Es ist Schreck. Ein verzweifeltes Mitleid, eine trostlose Liebe ist da in ihm allmählich zu ihr entstanden, von der er erst jetzt erfahren hat, daß sie Betty hieß; nur so, Betty; denn nur unter ihrem Vornamen war sie bekannt, und tatsächlich hat sich keiner ihrer Angehörigen gemeldet.

Mit diesem geheimen Gefühl im Herzen, das ihn förmlich auffrißt, ist es ihm völlig gleichgültig, ob die Leute, die da sprechen, gegen die Wahrheit verstoßen und etwas gegen ihn sagen; im Gegenteil, es ist ihm ganz recht, denn alles, was die da an Ungerechtem sagen, beweist ihm immer mehr, daß wahr vielmehr das andere ist, an das niemand glauben will, daß nämlich dieser Nagel absichtlich dort hingefallen ist, und das von Betty und dem anderen Mädchen, daß die nämlich, gerade als er in die Straße einbog, ebenfalls absichtlich zu Raufen begonnen hatten, absichtlich, damit er, von dieser Rauferei dazu angeregt, sich einzumischen, ohne daß er noch daran gedacht hätte, daß er ja mit diesem Nagel bewaffnet war, die grauenhafte Ungerechtigkeit begehen müßte, eine Unschuldige zu töten. Und übrigens ist das nicht wahr, Betty, das mit deinen Haaren; daß deine roten Haare nicht schön gewesen wären. Sie waren schön, jawohl, sie waren schön und sie standen dir wunderbar. Und was liegt schon daran, daß du all diese vielen Sommersprossen in deinem spitzen Gesichtchen hattest? Wenn du nur die Augen aufmachen würdest, die ich nicht einmal zu Gesicht bekommen habe! Ach wäre doch nur das Wunder geschehen, daß du da auf der Erde, in all diesem Blut, plötzlich, damit allen der Schreck vergeht, den Schalk von zwei leuchtenden Äuglein hättest aufblitzen lassen. Aber dieses Wunder ist nicht geschehen. Deine Äuglein habe ich nur geschlossen gesehen, auf immer geschlossen. Vielleicht konntest du, armes krankes Mädchen, auch gar keine leuchtenden Äuglein haben. Macht nichts, macht nichts: mach sie trotzdem auf, Betty, mach sie auf und lächle. Kann sein, es fehlt dir der eine oder andere Zahn; du wirst noch nicht alle zweiten Zähne haben; macht nichts, lächle trotzdem. aber diese weißen Lippen, diese weißen Lippen: man muß sofort das ganze Blut abwaschen.

Ein epileptischer Anfall? Wer redet da von einem epileptischen Anfall?

Sie meinen ihn damit, und sie erklären alle Symptome dieser Krankheit. Aber er ist ganz sicher, nie etwas dergleichen gespürt zu haben. Kann es sein, daß er diese Krankheit hat ohne es zu wissen, daß sie bis zum Augenblick des Delikts verborgen geblieben und dann plötzlich in ihm ausgebrochen ist?

Also, wenn sie weiter solche Dinge sagen, dann bricht ihm das Herz oder er schnappt über.

Aber jetzt reden sie von bösartigen Trieben.

Das ist ihm lieber, wenn sie das sagen, denn das ist nicht wahr. Er, bösartige Triebe? Er hat doch nie bei all den Grausamkeiten seiner Schulkameraden in den Pausen, gegen ein kleines Tier oder ein Insekt, zusehen können, ohne sich dagegen aufzulehnen. Also, gezeigt hat er sie nie, diese bösartigen Triebe. Und wenn die glauben, daß dieser vom Boden aufgehobene Nagel ein Beweis dafür sei, dann ist das ja zum Lachen. Die kennen ihn nicht. Die sprechen gar nicht von ihm. Kein Trieb ist in ihm erwacht, als er diesen Nagel aufgehoben hat. Er hat ihn aufgehoben, ohne überhaupt an das zu denken, was er tat; und er war so weit fort mit seinen Gedanken, daß er während des ganzen Stück Weges, den er zurücklegte, ehe er in die andere Straße einbog, nur an einen Wagen gedacht hatte, an einen Wagen, von dem dieser Nagel heruntergefallen sein könnte, einen Wagen, der vielleicht jetzt aufs Land fuhr, in die Ferne. Denn er war gerade in diesen Tagen vom Land zurückgekommen, wo er mit der Familie die Ferien verbracht hatte, den Sommer, und er hatte so viele solcher Karren über die Wege inmitten des hohen Grases fahren sehen. Aber im übrigen mögen sie doch sagen, was sie wollen; mögen sie doch die absurdesten Vermutungen anstellen, ihm liegt an gar nichts mehr etwas: Er ist schon weit weg, auf dem Land, in Old Lime, wo er den Sommer verbracht hat, er sieht wieder die Villa vor sich und die herrliche Landschaft in der heiteren Sommerluft; das Segelboot des Vaters, das am Ufer des Flusses, des Connecticut, vor Anker liegt, der so viel blauer ist als das Meer, zwischen all dem Grün ringsumher; er ist mit dem Vater auf diesem Boot bis zum Ozean gefahren; weiter hat die Mama nicht erlaubt, daß er mitfährt. Das Boot war ja so klein, mitsamt dem Segel; aber die Villa war groß, mit den vielen falschen Säulen in der Fassade, und auf allen Seiten umgeben von lauter großen, schönen Bäumen, von denen der Großvater sicher war, es seien Eukalyptusbäume, und die der Vater Platanen und Buchen nannte; Eukalyptus, Eukalyptus; Platanen, Buchen; Tatsache war jedenfalls, daß sie viel Schatten machten, denn in der Villa sah man fast gar nichts, und es war besser, die Tage draußen zu verbringen; außerdem, dazu fährt man ja schließlich aufs Land; die Mutter schrie ihm nach, er solle nicht zu weit fortgehen; und sie erklärten den Freunden, die sie besuchen kamen, auf der Hausbank sitzend, daß diese Villa das älteste Haus in Old Lime sei, und eines der ältesten Häuser in ganz Amerika; während er glücklich wie ein Verrückter am Flußufer entlang lief oder sich in der Landschaft verlor, mitten in dem Gras, das so hoch und so dicht stand und so sehr nach all den Säften der Erde roch, daß es einen fast erstickte und berauscht machte. Aber jetzt kann er nicht mehr allein sein. Jetzt ist er da inmitten all dieses Grases mit Betty; er will mit ihr spielen; aber zuerst will Betty nicht; dann gibt sie ihm ihre kleine Hand, eine noch ganz kalte Hand, eiskalt, so daß einen ein Schauder überläuft, wenn man sie anfaßt; man braucht nicht mehr daran zu denken; er beugt sich hinab, um sie anzusehen; nun folgt sie ihm mit gesenktem Kopf, den Finger der anderen Hand in den Mundwinkel gesteckt. Sie gehen und gehen. Aber so ist’s ja sinnlos, wenn sie nicht spielen sollen. Will sie nicht mehr spielen? Sie kann nicht? Was dann? Will sie sich wieder zu Boden werfen? Nein! Nein! Betty ist jetzt geheilt, sie muß wieder strahlen und lachen, jawohl, lachen. Aber Betty bleibt stehen und winkt ihm mit der Hand, er solle ein bißchen warten. Was denn? Sie muß einen Augenblick zur Seite gehen, nur für einen kleinen Augenblick. Ein Bedürfnis. Ihm ist das ein bißchen peinlich. Er mag das gar nicht, daß Mädchen gewisse Dinge aussprechen. Aber da kommt statt ihrer aus der Gegend, in der sie sich verstecken wollte, ein anderes Mädchen; nein, es ist nicht das von der Rauferei; es ist eine seiner Cousinen, dick und häßlich, fast so alt wie er, sie ist aus Harlem mit ihrer Mutter gekommen, um den ganzen Tag auf dem Land zu verbringen; er kann sie nicht ausstehen. Wo ist Betty hingegangen? Da ist sie, dort hinten, weit, weit weg, sie läuft; sie hat diesen Vorwand gewählt, um davonzulaufen; sie hat Angst vor ihm. Nein, nein Betty; er wird dir nicht mehr weh tun; er würde sein Leben dafür geben, dich wieder lebendig zu machen, er wird dich seinen Platz in dem Haus einnehmen lassen. Nun bist du hier. Die Mama wird dafür sorgen, daß du ordentlich gewaschen wirst. Und dann fort mit all diesen Lumpen; sie wird dir ein neues Kleid anziehen, in einer Farbe, die dir gut steht, die zu deinen roten Haaren paßt, ein blauviolettes Kleidchen; ach, wie du jetzt entzückend aussiehst; schade, daß er nicht mehr da sein kann, um dich zu sehen, wenn er sein Leben für dich gegeben hat; und du wirst immer so klein bleiben, hier auf dem Land, ohne je für irgend jemand groß zu werden; auf dem Land wie in einem Paradies, Betty.

Sie haben ihn nicht angeklagt.

Als er freigesprochen wurde, ließ sich der Junge nichts anmerken. Nur ein Seufzer ist ihm entschlüpft. Es ist sicher, daß er aus Kummer über Betty sterben wird.

Aber vielleicht wird er auch nicht sterben. Die Jahre werden vergehen. Und vielleicht wird er als Großer manchmal an Betty denken. Und dann wird er sie sehen, immer noch klein, wie sie auf ihn wartet, auf dem Land, in Old Lime, in ihrem immer noch ganz neuen blauvioletten Kleid, das so gut zu ihren roten Haaren paßt.

© Michael Rössner.

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